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Titel: Upload
Autoren: Cory Doctorow
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er sich noch vage erin-12
    nerte. In diesen Überlegungen führt Descartes die objektive Wahrheit der Realität als Beweis für Gottes Wohltätigkeit an – und umgekehrt. All das gipfelt in dem Satz »Ich denke, also bin ich«. Pater Ferlenghetti schaffte es sogar, diese Ausführungen in die vorbereitete Predigt einzuflechten, doch ehe er fortfahren konnte, gellte Arts schrille junge Stimme durchs Kirchenschiff.
    Erstaunlicherweise hatte sich dieser Sechs-jährige die ziemlich tückischen Rätsel Descartes in genau der Zeit zu eigen gemacht, die der Pater zu deren Erläuterung brauchte. Und jetzt benutzte er dieselben Argumente dazu, die zwangsläufige Bosheit Gottes zu beweisen, woraus er folgerte, dieses angeblich vollkommene Höchste Wesen könne per se gar nicht existieren. Oma wollte Art auf der Stelle nach Hause bringen, aber der Priester – der Jesuiten erlebt hatte, die sich mit intel-lektuellem Pingpong vergnügten, und ein Natur-talent auf den ersten Blick ausmachen konnte –
    bat ihn zur Kanzel. Dort nahm Art es mit der ganzen Kirchengemeinde auf, ob es Einzelne waren oder Gruppen. Als man seine Äußerungen in logischer Hinsicht angriff, konterte er, indem er rhetorische Fallen auslegte, in die sie mit dem Verstand von Kohlköpfen hineintappten. Pater Ferlenghetti lachte und verdeutlichte die Argumente, die zun-genlahme rhetorische Amateure aus dem Publikum stotternd vortrugen, doch bald darauf lehnte 13
    er sich zurück und staunte nur noch darüber, wie Art die Sache durchzog. Die vorbereitete Predigt konnte er vergessen und es stand noch die Kommunion aus, aber es war, weiß Gott, lange her, dass die Kirchengemeinde sich so eifrig bemüht hatte, ihr Verhältnis zu Gott und Glaubensfragen zu klären.
    Nachdem Art zu seiner schockierten, erbosten Großmutter zurückgekehrt war, umarmte Pater Ferlenghetti die alte Frau bewusst herzlich und versicherte ihr, Art sei in seiner Kirche jederzeit willkommen. Womöglich werde der Junge später einmal das Priesterseminar besuchen. Arts Oma war so verblüfft, dass sie unter ihrem Sonntags-puder errötete. Und die Hand, die sich in Arts Schulter gekrallt hatte, streichelte ihn plötzlich ganz zärtlich.

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    In dieser Geschichte geht es um die Fra-
    ge, ob man die Klugheit dem Glück oder das Glück der Klugheit vorziehen sollte. Art ist ein netter Kerl. Er ist teuflisch klug. Das ist seine Masche und Macke. Wäre er eine Zeichentrickfigur, dann einer dieser schrecklichen Klugscheißer, die ständig die Geheimnisse aufdecken, von denen ihre Freunde so fasziniert sind. Es ist nicht leicht, Arts Freund zu sein.
    Was natürlich auch der Grund dafür ist, dass Art (»Name von der Redaktion geändert«) sich schließlich fünfundvierzig Stockwerke über der Waldlandschaft von Massachusetts wiederfindet, während der heiße Augustwind sein Haar zer-zaust und die Beine seiner Boxershorts aufbläht; dass ihm ein Bleistift in der Nase steckt; dass er seiner Geschichte den Gnadentod verpasst hat, damit er sie sezieren kann. Möglich, dass Art (»Na-me von der Redaktion geändert«) mit der Wahrheit mitunter recht freizügig umgehen wird, um die Geschichte schlüssig zu erzählen. Schließlich handelt es sich hier nicht um eine Autobiografie, 15
    sondern um autobiografisch inspirierte Belletris-tik.
    Art ist zwar nicht mein richtiger Name, aber Sie können mich ruhig so nennen. Ich bin ein Agent provocateur des Eastern Standard Tribe , des Stamms der Östlichen Zeitzone (SÖZ), obwohl ich die meiste Zeit meines Lebens in der MGZ-8 und in verschiedenen Zulu-Breitengraden verbracht habe.
    Und das bedeutet, dass meine arme Zirbeldrüse kaum noch weiß, wie sie ihre Arbeit verrichten soll, sofern ich sie nicht mit Melatonin-Vorstufen sättige und im Licht meiner Reiselaterne einer mehrstündigen Neun-Kilolumen-Behandlung unterziehe.
    Die Stämme sind dabei, die Welt zu übernehmen. Man kann unser Vorrücken an der steigen-den Anzahl kleinerer Verkehrsunfälle ablesen. Die Schlaflosen sind wirklich schreckliche Fahrer. Die Sommerzeit ist ein Witwenmacher: Halten Sie sich am Tag der Zeitumstellung von den Straßen fern!
    Jetzt taucht die zweite Figur in unserem mora-lischen Lehrstück auf. Sie ist das Objekt der Begierde. War es jedenfalls. Wir haben uns getrennt, kurz bevor ich in diese Nervenheilanstalt eingeliefert wurde. Unsere Tag-Nacht-Rhythmen waren nicht miteinander zu vereinbaren.

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    Der 3. April 2012 war der Tag, an dem Art um ein Haar
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