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Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)

Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)

Titel: Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)
Autoren: Sándor Márai
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während dieser zehn Tage ihrer Besatzung wahrhaftig eine Art der Befreiung brachten – nicht nur für die Juden, sondern für alle.
    Die Beispiele Spenglers sind willkürlich und nicht immer überzeugend. Ich glaube, ich verstehe genau, was er über die Symptome der Blüte und des Untergangs der »zeitgleichen« Kulturen sagen will, »zeitgleich« auch dann, wenn ein-, zweitausend europäische oder chinesische Jahre zwischen identischen Symptomen liegen, doch der Kontrapunkt und die doppelte Buchführung, die »Zeitgleichheit« der chinesischen Seide und Giordano Brunos überzeugen mich nicht. Er ist übertrieben plakativ und dünkelhaft fanatisch, wenn er Beweise führt; und er beweist selten, behauptet etwas eher überraschend und in überheblichem Ton.
    Das Leben ist entweder gefährlich oder langweilig. Bitte wählen. Wirklich erwachsen ist jener Mensch, der lernt, sich zu langweilen, ohne sich von diesem Zustand erniedrigt zu fühlen.
    Die ersten Nachrichten sind besser: Bei Felsőgalla wurde der große deutsche Panzerangriff aufgehalten. Sechs Divisionen haben dort angegriffen, mit angeblich sechshundertsechzig deutschen Panzern. Am Sonntag nach dem Dreikönigstag ist auch der Artilleriebeschuss schwächer, über Budapest gibt es nichts Neues; und was durchsickert, ist unzuverlässig. Angeblich sind drei Viertel von Buda und ein Drittel von Pest in russischer Hand. Straßenkämpfe in den Tunnels der Untergrundbahn ; Russen haben unter den Ruinen der Margaretenbrücke auf den Rudolfskai übergesetzt und so weiter. Oben in der Zitadelle und in der Burg stehen und kämpfen nach wie vor die Deutschen.
    All das ist ein Fiebertraum. Eines ist gewiss: Es handelt sich um eine tödliche Krankheit, an der man vielleicht nicht sterben muss, doch völlig geheilt von ihr wird man nie sein. Keiner von uns kann vorhersehen, in welchem Zustand er aus diesem Fiebertraum erwacht, wenn er ihn überhaupt überlebt. Mein ganzes bisheriges Leben, meine Arbeit, jeder Bezug zur Lebensweise, zu den Arbeitsumständen ist verloren gegangen; alles, was ich mir in fünfundzwanzig Jahren mit Arbeit verdient habe; aber das ist das wenigste. Auch die bloße Existenz ist eine schwierige Sache. Zwei Anzüge sind mir als mein persönlicher Besitz geblieben, der eine ist zerlumpt, zwei Paar Schuhe, die Sohle des einen Paars ist beinahe durchgelaufen … Meine Habseligkeiten in Budapest sind vielleicht vernichtet, vielleicht auch nicht, doch der Lebensstil, zu dem diese Utensilien gehörten, ist mit Sicherheit zugrunde gegangen. Es gibt keine menschliche Vorstellungskraft, die vorhersagen könnte, wie, warum, für wen ich in diesem zerstörten Land Schriftsteller sein soll. Wird es überhaupt Literatur in dem Sinne wie früher geben? Und alles andere, was zur Kultur gehörte …
    Seit zwei Tagen dichtes Schneetreiben. Diese Hurenlandschaft hat sich den Russen schon ganz hingegeben. Das Dorf sieht aus wie ein Dorf an der Wolga.
    Und wie verdorben diese ungarische Gesellschaft ist, wie habgierig verdorben, zigeunerhaft, unmoralisch in ihrer Unkultur! Das Eis hat einen Lastkahn, der sich losgerissen hat, bei Tahi angetrieben; eine fröhliche Meute fährt am Nachmittag mit Leiterwagen der Gemeinde los, um den Lastkahn zu plündern; unter ihnen auch der örtliche Pfeilkreuzler und der örtliche Kommunist in friedlichem Einverständnis; die Hoffnung auf Beute bringt sie für einen historischen Augenblick zusammen, wie das auch bei der Plünderung des Weinkellers in unserem Haus der Fall war. Ihrer Erklärung entnehme ich, dass sie von der Gemeinde geschickt sind, damit sie für das Dorf, das mühsam sein Leben fristet, in dieser außergewöhnlichen Lage Lebensmittel besorgen; und das ist wahrlich eine Rechtfertigung für den Raubzug … Doch am Abend weiß ich schon, dass die Gemeinde vom Käsepulver und vom Lebkuchen, den man auf dem Frachtkahn gefunden hat, nichts bekommt; jeder hat auf eigene Rechnung geplündert; sogar die Möbel der Schiffer haben sie mitgenommen, jede Messingschraube des Dieselmotors. Rauben, leben ohne Gesetz und Moral, dazu sind schon heute – blutdurstig, zynisch – Herr und Bauer bereit … Dieser Prozess, der am 19. März des letzten Jahres begonnen hat und jetzt nicht mehr aufgehalten werden kann, ist der Tiefpunkt des moralischen Niedergangs. Wer wird diesem Volk wieder Gesetze schreiben, dem Volk, das unter den Arpaden stark und diszipliniert war und heute an eine Diebesbande von Zigeunern erinnert, die von habgierigen
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