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Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)

Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)

Titel: Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)
Autoren: Sándor Márai
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ein: Er ist gekommen, um sich zu verabschieden. Er wird zu Fuß nach Hause, ins Komitat Somogy , gehen. Am Morgen bricht er auf, setzt mit der Vácer Fähre über. [Eintrag durchgestrichen.]
    Ein Besucher erzählt, dass ihn unterwegs, in der Abenddämmerung, zwei Russen angehalten hätten; sie fragten, wo es hier Burschuis gebe? Er beschwichtigte sie, dass es hier überhaupt keine Burschuis gebe, nur kleine Häuschen und so weiter. Sie ließen ihn laufen und zogen weiter in Richtung der Villen.
    Auf solche Besuche zur Dämmerstunde muss man gefasst sein. Die Kommandanturen bestrafen jede Tat und ersetzen, wenn möglich, den Schaden; mein Nachbar bekam für das Fahrrad, das man ihm weggenommen hatte, ein anderes. Die Deutschen haben all das im Großen, wie Spediteure, also mit Sachverstand, gemacht; die Russen machen es, wie’s kommt, individuell, in der Dämmerung; doch es waren Ungarn, die es in den vergangenen Monaten am abscheulich sten und hinterhältigsten gemacht haben: legal.
    Auf der Landstraße galoppiert ein junger Kosak auf Patrouille. Er bleibt einen Augenblick stehen, fragt nach der Visegráder Straße und richtet dabei den Gurt seines Gewehrs.
    Sein mongolisches Gesicht ist gleichgültig, müde und unermesslich fremd; das Pferd und sein Reiter kommen aus jener Ferne, in der sich die Gestalten der östlichen Mythen tummeln; dieser mongolische Reiter galoppiert schon seit Jahrtausenden so durch die Steppe, die Flüsse entlang; über sein dunkles Gesicht huscht ein eigenartiges Lächeln; er winkt und trabt einsam weiter, verschwindet im Nebel.
    Tag und Nacht Trommelfeuer; man beschießt Budapest. Ich kann weder schlafen noch lesen. In diesen Tagen geht alles zugrunde, und danach müsste alles ganz von vorn und anders angefangen werden. Doch gerade das ist unmöglich: weil wir Menschen sind; und was menschlich in uns ist, das verändert sich auch unter der Wirkung des Trommelfeuers nicht. Es werden also die Ruinen bleiben und in den Ruinen derselbe Mensch.
    Ich muss mich zur vollkommenen Einsamkeit, zu unparteiischer Gerechtigkeit, zu geduldiger Gleichgültigkeit erziehen, es reicht nicht, nur zu überleben; es hat nur dann Sinn weiterzuleben, wenn ich meine Lebenspraxis an jenen Erfahrungen ausrichte, die ich im letzten Jahr gesammelt habe. Wissen, dass niemand einem hilft. Wissen, dass Gott immer da ist. Wissen, dass ich mit Gott allein bin. Alles beobachten, stumm.
    Budapest wird in diesen Tagen vernichtet; wie Stalingrad, Charkow, Nürnberg, Berlin, Coventry oder Calais, Monte Cassino; und all die anderen Städte.
    Das ist ein zwangsläufiger Prozess, man kann ihn nicht aufhalten; eine graduelle Frage, wie sehr die Stadt zerstört wird; doch diese Zerstörung ist nicht nur horizontal. Die Großstadt, die mein Zuhause war, in der ich ein Zuhause hatte, in deren Kellern in diesen Tagen meine Mutter, meine Geschwister, alle Menschen, an denen mir etwas liegt, jammernd ihres Schicksals harren, zerfällt auch von innen, sie vergeht auch vertikal, zerfällt in ihrer gesellschaftlichen und seelischen Struktur. Das muss man begreifen, und das ist nicht leicht. Denn anderthalb Millionen Menschen gehen nicht völlig unschuldig zugrunde; dazu muss man das Schicksal herausgefordert haben; und diese anderthalb Millionen Menschen sind genauso unschuldig, wie sie schuldig sind; wir sind alle unschuldig und zugleich schuldig, weil wir dieses Schicksal auf uns genommen haben, als wir es nicht laut genug ablehnten, als wir nicht rechtzeitig protestierten, bestimmt und aus voller Brust, ohne Rücksicht auf Verluste, damit haben wir es noch angestachelt. Das alles beginne ich in diesen Nächten zu verstehen; und über jedes Mitleid hinaus, das mein Herz schneller schlagen lässt, begreife ich auch, dass im Rahmen der absoluten Verantwortung nun mit gleichgültiger Unparteilichkeit beobachtet werden muss, was geschieht.
    Und es ist nicht wahr, dass »neu« sein wird, was sich eines Tages zwischen den Ruinen aufrappelt und aufzubauen beginnt; alles wird eine andere Formensprache haben; doch es wird nicht »neu« sein. Es wird dasselbe sein; und aussichtslos.
    Und noch einmal »rechts« und »national« und »christlich«.
    Auch die Russen erweisen sich als große Patrioten, obwohl sie Bolschewisten sind; auch die Engländer sind Christen, obwohl sie Demokraten sind. Was für ein Monopol war das wohl, das die ungarische »Rechte« unter dem Vorwand dieser großen menschlichen Ideen beanspruchte und für sich ausnutzte?
    Mein
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