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Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)

Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)

Titel: Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)
Autoren: Sándor Márai
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das Gute nicht verherrlicht, weil er weiß, dass all das nur ein Produkt des menschlichen Wesens ist und zu dir gehört wie deine Ohren oder deine Hände; und mit dem man nicht feilschen kann, der dich nicht verurteilt, dir aber auch niemals die Absolution erteilt.
    Die letzten Seiten der Schwester . Trotzdem würde es sich ziemen, auf die Frage zu antworten, was Krankheit ist … Denn »verletzte Weltordnung« und »kranker Gott«, das sind nur Wörter.
    Ich weiß keine Antwort. Sicher ist die Krankheit eine Haltung; genauer – der Mangel an Haltung. Der Mensch wird eines Tages feige oder dumm oder versündigt sich, und dann erkrankt er. Doch das kann man nicht analysieren. Es gibt Krankheiten, die heilen, weil man sie behandelt. Und es gibt Krankheiten, die man nicht behandelt und die trotzdem heilen. Und es gibt Krankheiten, die heilen trotz der Behandlung. Und es gibt Krankheiten, von denen wir nie erfahren, warum sie heilten, dank oder trotz der Behandlung. Man würde zwei Exemplare jedes Kranken benötigen – den einen behandeln, den anderen nicht –, um darüber Gewissheit zu bekommen.
    Ich glaube, die Krankheit ist zu einem großen Teil Selbstbestrafung; dann Feigheit; und zuallerletzt Ausdruck von Panik, jener Panik, die das Lebewesen im furchtbaren Chaos des Seins von Zeit zu Zeit erfasst.
    Vielleicht ist die Krankheit jene Aggression, mit der der Körper auf das Panikgefühl der Seele antwortet. Wenn es denn stimmt, dass der tiefste Grund jeder Aggression die Panik ist …
    Spenglers Stil verdrießt mich; er ist amateurhaft, schwatzhaft, schwärmerisch, übertreibt, er will alles beweisen und ist gleichzeitig nicht überzeugend genug. Folgende These stimmt und ist gar nicht so neu, wie er glaubt: Auch früher schon wussten wir, dass große Kulturen, zum Beispiel die babylonische, die phönizische, die Inkakultur, die Azteken, Tolteken, die persische, die ägyptische, die griechischen Kulturen, zur Großstadtzivilisation erstarrt sind und dann untergingen. Interessanter wäre es, dem Geburtsprozess der Kulturen nachzuspüren: Wie entsteht aus dem mürben Humus der Kultur, die an der Zivilisation erkrankte und starb, neues Leben, eine neue Blütezeit, wie wird eine Kultur geboren ? Jetzt vielleicht, auf den buchstäblichen Ruinen der westeuropäischen Zivilisation, die russische …
    Mit Stundenplan, Arbeit und Lektüre narkotisiere ich mich, so gut ich kann; währenddessen höre ich diesen entsetzlichen Lärm, der das Verderben Budapests bedeutet; doch dann gibt es Stunden, da alle Disziplin nichts hilft, ich kann es nicht mehr ertragen.
    Vergebens ist alle Disziplin, Erfahrung, umsonst weiß ich, dass jeder Mensch schuldig ist – all das, was jetzt schon die dritte Woche mit den Menschen in Budapest geschieht, ist unbegreiflich und unerträglich. Hilflos, hoffnungslos lausche ich diesem Lärm aus der Unterwelt, der Zerstörung des Lebens und des Zuhauses von einer Million, von anderthalb Millionen Menschen, von allem und allen, an dem, an denen mir etwas lag – und das alles nur, damit die Russen ein paar Wochen später die österreichische Grenze erreichen. Dafür opfern einige Nazigeneräle das Leben und Zuhause von anderthalb Millionen Ungarn, dafür, nur dafür. Ich verstehe, dass es für die Deutschen keine Vergebung mehr gibt – ich verstehe, dass man ihnen nur mit der Waffe antworten kann, ein für alle Mal. Ein Volk, in dessen Seele man solche Grausamkeit großgezogen hat, verdient keine Nachsicht mehr. Und das Gleiche haben sie mit Stalingrad gemacht, mit Charkow, Kiew, Calais, mit italienischen Städten … haben es gemacht und machen es immer noch, wo und wie sie können, systematisch, kalt, nach Plan! Ganz Europa zerstören sie aus »kriegstechnischer Notwendigkeit«. Dafür gibt es keine Vergebung. Daran sollen die, die nach uns kommen, stets denken, was auch immer geschieht.
    Unwirklicher Schneefall, dicht und übermäßig; ich schaufle mich durch den Schnee, der mir bis an die Hüften reicht, in Richtung Gartentor. Diese Andersen’sche Landschaft ist eine Ecke auf einem der blutigsten Kriegsschauplätze; gestern haben die Deutschen Esztergom und Bicske zurückerobert.
    Keiner hilft, nur die völlig namenlosen kleinen Leute; heute hat die Wäscherin aus Tahi zehn Kilo Mehl und sechs Liter Lampenöl gebracht; für Geld und auch nicht billig, ja, unwahrscheinlich teuer, trotzdem ist es, als würde sie es umsonst geben, denn für Geld gibt keiner mehr was. Und den ganzen Tag habe ich im
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