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Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)

Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)

Titel: Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)
Autoren: Gerd Ruge
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Jungs hatte er Rohkost auf den Speiseplan gesetzt – schließlich sei auch der Führer Vegetarier. Viel ärgerlicher war jedoch, dass er kranke Schüler nicht zum Arzt gehen ließ, sondern selbst behandelte. Zwei seiner jungen Patienten hatten seit Tagen eitrig geschwollene Wunden an den Füßen, die er ausschließlich mit Heilerde kurieren wollte. Ich holte aus der Apotheke, was ich von zu Hause kannte: eine schwarze Salbe, mit der es den beiden Jungen sehr schnell besser ging. Aber nun hatte ich einen Feind, und gemeinsam mit dem Scharführer fing der Lehrer an, mir Schwierigkeiten zu bereiten. Ich hatte in meinem Zimmer ein paar Drucke aufgehängt, Cézanne, van Gogh und Corot, was die beiden zum Anlass nahmen, mich bei der nächsthöheren Führungsstelle als Anhänger »entarteter Kunst« anzuschwärzen. Überhaupt sei ich politisch unzuverlässig und auch nicht schneidig genug.
    Doch noch ehe die Sache ernster wurde, erhielt ich einen Marschbefehl nebst Fahrkarte in den von Deutschland annektierten Teil der Tschechoslowakei, das sogenannte Protektorat Böhmen und Mähren. In Podiebrad war ein Schulungslager eingerichtet worden. Mit ein paar Hundert Jungen studierte ich Theorie und Praxis nationalsozialistischer Jugendführung. Über meinen Streit in Burghausen wurde nicht gesprochen, was mich beruhigte. Andererseits langweilte mich der mehrwöchige Lehrgang enorm, und die HJ -Führer blieben mir fremd. Nur mit einem jungen Wiener konnte ich anfangs ab und zu Gespräche führen, aber auch wir verkrachten uns: In der großen Warteschlange vor dem Esssaal hatte ich aus Spaß und Langeweile angefangen, ihm ein Ringelnatz-Gedicht über Kuttel Daddeldus Weihnachtsfeier aufzusagen. Da packte er mich am Ärmel und sagte leise, aber entschlossen: »Hör sofort damit auf. Wir sind hier, um von der Weltanschauung des Nationalsozialismus zu lernen.« Nun hatte ich keinen Gesprächspartner mehr.
    Natürlich war ich froh, als wir nach sechs Wochen den Kurs mit einem stramm gesungenen »Die Fahne hoch, die Reihen fest geschlossen« beendeten. Jetzt hätte ich ins Landverschickungslager von Burghausen zurückfahren sollen, aber den Ärger wollte ich mir ersparen. Ich wollte nach Hamburg zurück, auch wenn das verboten und vielleicht gefährlich war. Also stieg ich in Prag aus dem Zug nach München aus und ging zum Nachdenken in den Bahnhofswartesaal. Angenehm war es nicht, dort zu sitzen und angestarrt zu werden: Die Leute um mich herum waren Tschechen, und sie schauten sehr unfreundlich auf diesen jungen Nazi in schwarzem Hemd, Trainingshose und hohen Gummistiefeln.
    Immerhin, ich kam in dieser Uniform zunächst einmal mit dem Zug unbehelligt bis Berlin, wo ich spätabends bei der Auskunft fragte, wie ich nach Hamburg weiterfahren könne. Ein dunkelhaariger, gutgekleideter Mann bot mir seine Hilfe an. In dieser Nacht gebe es keinen Zug mehr nach Hamburg, stellte er fest. Ich könne aber bei ihm übernachten. Er hatte eine kleine, angenehm moderne Wohnung, doch als er mir den Schlafplatz in seinem Doppelbett zuweisen wollte, merkte ich, dass er homosexuell war. Meine Ablehnung überraschte ihn. »Ich dachte, in der Hitlerjugend seid ihr alle so«, meinte er nervös, und seine Besorgnis steigerte sich noch, als ich vor einem großen Porträt an der Wand stehenblieb. Unter dem Bild eines gutaussehenden jungen Mannes stand der Name »Montgomery«. »Ist das der englische Feldmarschall?«, fragte ich. »Ist das ein Jugendbild von ihm?« Mein Gastgeber war sichtlich erschrocken. Das hatte ihm noch gefehlt, dass er einen Hitlerjungen aufnahm, der nachher erzählte, er habe das Porträt eines englischen Generals an der Wand. Das sei kein Soldat, sondern ein junger Schauspieler in Amerika, meinte er aufgeregt. Ich versuchte ihn zu beruhigen, aber als ich mich am nächsten Morgen verabschiedete, spürte ich ganz deutlich seine Sorge, ich könnte ihn als Homosexuellen und Engländerfreund verpfeifen.
    In Aumühle, zwanzig Kilometer von Hamburg entfernt, zog ich in das Haus meiner Großeltern, wo auch meine Mutter lebte. Ich ging zur Oberschule in Reinbek und meldete mich einfach an. Alles lief ohne große Formalitäten, und dass ich mich einfach nach Hamburg abgesetzt hatte, blieb ohne Konsequenzen. Immer wieder fiel der Unterricht aus, wenn wir die Schule wegen Fliegeralarm verlassen mussten. Dann begleiteten mein Freund und ich zwei Mitschülerinnen zu deren Haus im Villenviertel. Dort saßen wir oft im Garten, wo ich das Kartenspiel
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