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Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)

Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)

Titel: Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)
Autoren: Gerd Ruge
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Schafkopf lernen musste. Die Mutter des einen Mädchens, eine gutaussehende, gebildete Frau, war eine Amerikanerin, die sich aber nie über politische Themen äußerte. Mein Freund war der einzige Katholik in der Schule und redete auch nicht von Krieg, Politik oder dem Führer. Zwei Häuser von meiner Großmutter entfernt wohnte einer der Anführer des Kieler Matrosenaufstands von 1918, der jedem möglicherweise schwierigen Gespräch auswich, und noch ein paar Häuser weiter die wohlhabende Schwiegermutter einer jungen Engländerin, die mit einem erfolgreichen deutschen Juristen in Berlin verheiratet war. Von dieser erzählte man sich, ihr Vater sei einer der größten Zeitungsverleger in England, ein enorm reicher und einflussreicher Mann, der uns vor den Bombern der Royal Air Force schützen würde. Zu bombardieren gab es in diesem Hamburger Vorort eigentlich nichts, aber auf den Schutz der mächtigen englischen Verwandtschaft unserer Nachbarin rechnete man gern.
    Alles lief ganz gut für mich, außer in der Schulklasse. Da hatte sich ein Mädchen in mich verknallt, eine etwas maskulin wirkende Blondine, die wir in unserem kleinen Freundschaftszirkel manchmal »die Nazisse« nannten. Sie ärgerte sich, dass ich mit ihr nichts anfangen wollte, und meckerte darüber, dass ich im Garten einer Amerikanerin Zeit verbrächte. Einmal bekamen wir im Deutschunterricht ein zeitgenössisches Theaterstück zu lesen: Junge Nationalsozialisten kämpfen gegen die Weimarer Republik, gegen die »Systemzeit«, die durch einen sozialdemokratischen Regierungspräsidenten repräsentiert wird. »Den muss der Gerd spielen«, rief das blonde Mädchen der Lehrerin zu, »das ist genau seine Rolle.« – »Aber der Regierungspräsident ist dick, alt und hat große rote Hände. Das ist doch nicht der Gerd«, sagte die Lehrerin. Sie schob den Vorschlag schnell beiseite, weil sie wusste, dass eine Diskussion darüber, ob ich der Typ eines Systemzeit-Demokraten sei, gefährlich werden könnte. Immerhin bestellte der Direktor mich zu sich und fragte, was da vorgefallen sei, um dann fast sofort von den Problemen des Mathematikunterrichts zu reden. Zwar gehörte er auch zu denen, die mit dem Parteiabzeichen am Revers herumliefen, doch er war kein fanatischer Nazi und wollte jedenfalls vermeiden, dass seine Schule politisch auffiel.
    Manchmal musste ich mich ziemlich verbiegen, beispielsweise bei einem Aufsatz über Schillers Räuber . Die erwartete Richtung war klar: Karl Moor ist ein edler Räuber, ein idealistischer deutscher Rebell. Sein Mit-Räuber Moritz Spiegelberg hingegen ist ein Jude und ein Verbrecher aus Selbstsucht und Geldgier. Ich versuchte, dem Zwang zu dieser antisemitischen Gegenüberstellung zu entgehen, und beschrieb Spiegelberg vor allem als einen schlauen Planer und hochintelligenten Kopf. Karl Moor mit seinen großen Worten kam dagegen schlechter weg. Die Deutschlehrerin gab mir das Aufsatzheft ohne jeden Kommentar zurück, aber mit einer Zwei. Ich fand, dass ich mich eigentlich ganz klug aus der Affäre gezogen hatte. Doch die junge Erzieherin aus Marienau, der ich den Aufsatz einige Wochen später zeigte, war nicht so zufrieden. Ich sei in die Falle gegangen, meinte sie, denn die Geschicklichkeit und die Intelligenz, die ich bei Spiegelberg gelobt hätte, entspreche doch gerade dem Negativklischee des jüdischen Intellektuellen, während sich der weniger gerissene Karl Moor umso mehr als selbstloser idealistischer Deutscher erweise. Ich war verwirrt und unsicher. »Es gibt keinen Ausweg, außer der Lüge. Und die Lüge kann kein Ausweg sein«, schrieb ich der jungen Erzieherin.
    In unserer Klasse gab es zweiundzwanzig Mädchen und drei Jungen. Alle anderen Schüler waren schon zur Wehrmacht eingezogen worden. Der dritte Junge neben mir und meinem katholischen Freund kam aus einer reichen Familie in unserer Nachbarschaft. Seine Mutter hatte sich mit Spenden und Beziehungen in der NS -Frauenschaft engagiert und galt als einflussreich. Ihr Sohn war nicht der Schlaueste, aber mit Hilfe seiner Mutter hatte er sich einen Wunsch erfüllen können: Er hatte einen Zug der Nachrichten- HJ gegründet und ihn mit Funkgeräten ausgerüstet. Damit hatte er sich eine kleine, durchaus linientreue, fast selbständige Einheit zugelegt. Er wollte mich in seinen Verband von zwölf oder vierzehn Leuten aufnehmen, besonders, so sagte er, wenn ich bei passender Gelegenheit noch einmal die weiße Kordel des Lagermannschaftsführers anlegen könnte.
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