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Unterm Rad

Unterm Rad

Titel: Unterm Rad
Autoren: Hermann Hesse
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Vater Prügel zu bekommen! Es hatte damals so viel rätselhafte und seltsame Dinge und Leute gegeben, an die er nun schon lange gar nicht mehr gedacht hatte! Der Schuhmächerle mit dem krummen Hals, der Strohmeyer, von dem man sicher wußte, daß er sein Weib vergiftet hatte, und der abenteuerliche »Herr Beck«, der mit Stecken und Schnappsack das ganze Oberamt durchstrich und zu dem man Herr sagte, weil er früher ein reicher Mann gewesen war und vier Pferde samt Equipage besessen hatte. Hans wußte von ihnen nichts mehr als die Namen und empfand dunkel, daß diese obskure, kleine Gassenwelt ihm verlorengegangen war, ohne daß etwas Lebendiges und Erlebenswertes statt dessen
    gekommen wäre. Da er für den folgenden Tag noch Urlaub hatte, schlief er morgens in den Tag hinein und genoß seine Freiheit. Mittags holte er den Vater ab, der noch von allen den
    Stuttgarter Genüssen selig erfüllt war.
    »Wenn du bestanden hast, darfst du dir etwas wünschen«, sagte er gut gelaunt. »Überleg dir's!«
    »Nein, nein«, seufzte der Knabe, »ich bin sicher durchgefallen.«
    »Dummes Zeug, was wirst du auch! Wünsch dir lieber was, eh's mich reut.«
    »Angeln möcht' ich in den Ferien wieder. Darf ich?« »Gut, du darfst, wenn's Examen bestanden ist.« Am nächsten Tage, einem Sonntag, ging ein Gewitter und Platzregen nieder, und Hans saß stundenlang lesend und nachdenkend in seiner Stube. Er überdachte seine Stuttgarter
    Leistungen nochmals genau und kam immer wieder zu dem Ergebnis, er habe heillos Pech gehabt und hätte viel bessere machen können. Zum Bestehen würde es nun auf keinen Fall mehr
    reichen. Das dumme Kopfweh! Allmählich bedrückte ihn eine wachsende Bangigkeit, und
    schließlich trieb eine schwere Sorge ihn zu seinem Vater hinüber. »Du, Vater!« »Was willst?«
    »Etwas fragen. Wegen dem Wünschen. Ich will lieber das Angeln bleiben lassen.« »So, warum denn jetzt das wieder?« »Weil ich... Ach, ich wollte fragen, ob ich nicht...« »Heraus damit, ist das eine Komödie! Also was?« »Ob ich aufs Gymnasium darf, wenn ich durchfalle.« Herr Giebenrath war sprachlos.
    »Was? Gymnasium?« brach er dann los. »Du aufs Gymnasium? Wer hat dir das in den Kopf
    gesetzt?« »Niemand. Ich meine nur so.«
    Die Todesangst stand ihm im Gesicht zu lesen. Der Vater sah es nicht.
    »Geh, geh«, sagte er unwillig lachend. »Das sind Überspanntheiten. Aufs Gymnasium! Du meinst wohl, ich sei Kommerzienrat.«
    Er winkte so heftig ab, daß Hans es aufgab und verzweifelnd hinausging.
    »Ist das ein Bub!« grollte er hinter ihm her. »Nein, so was! Jetzt will er gar noch aufs Gymnasium!
    Ja, prosit, da brennst du dich.«
    Hans saß eine halbe Stunde lang auf dem Fenstersims, stierte auf den frisch geputzten
    Dielenboden und versuchte sich vorzustellen, wie das sein würde, wenn es nun wirklich mit Seminar und Gymnasium und Studieren nichts wäre. Man würde ihn als Lehrling in einen Käsladen oder auf ein Bureau tun, und er würde zeitlebens einer von den gewöhnlichen armseligen Leuten sein, die er verachtete und über die er absolut hinaus wollte. Sein hübsches, kluges
    Schülergesicht verzog sich zu einer Grimasse voll Zorn und Leid; wütend sprang er auf, spuckte aus, ergriff die daliegende lateinische Chrestomathie und warf das Buch mit aller Wucht an die nächste Wand. Dann lief er in den Regen hinaus.
    Am Montag früh ging er wieder in die Schule. »Wie geht's?« fragte der Rektor und gab ihm die Hand. »Ich dachte, du würdest schon gestern zu mir kommen. Wie war's denn im Examen?« Hans senkte den Kopf. »Na, was denn? Ist's dir schlecht gegangen?« »Ich glaube, ja.«
    »Nun, Geduld!« tröstete der alte Herr. »Vermutlich kommt noch heute vormittag der Bericht von Stuttgart.« Der Vormittag war entsetzlich lang. Es kam kein Bericht, und beim Mittagessen konnte Hans vor innerlichem Schluchzen kaum schlucken.
    Nachmittags, als er um zwei ins Schulzimmer kam, war der Klassenlehrer schon dort. »Hans Giebenrath«, rief er laut. Hans trat vor. Der Lehrer gab ihm die Hand. »Ich gratuliere dir, Giebenrath. Du hast das Landexamen als Zweiter bestanden.«
    Es entstand eine feierliche Stille. Die Tür ging auf, und der Rektor trat herein.
    »Ich gratuliere. Nun, was sagst du jetzt?« Der Bub war ganz gelähmt vor Überraschung und Freude. »Na, sagst du gar nichts?«
    »Wenn ich das gewußt hätte«, fuhr es ihm heraus, »dann hätt' ich auch vollends Primus werden können.« »Nun geh heim«, sagte der Rektor, »und
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