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Unterm Rad

Unterm Rad

Titel: Unterm Rad
Autoren: Hermann Hesse
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ihm vor, als sei er schon wochenlang hier und könne nie mehr wegkommen. Wie etwas sehr weit Entferntes, vor langer Zeit einmal Gesehenes erschien ihm das Bild des väterlichen Gartens, die tannenblauen Berge, die Angelplätze am Fluß. Oh, wenn er heut noch heimreisen dürfte! Es hatte doch keinen Wert mehr dazubleiben, das Examen war jedenfalls verpfuscht.
    Er kaufte sich einen Milchwecken und trieb sich den ganzen geschlagenen Nachmittag sträßlings herum, um nur dem Vater nicht Rede stehen zu müssen. Als er endlich heimkam, war man in Sorge um ihn gewesen, und da er erschöpft und elend aussah, gab man ihm eine Eiersuppe und schickte ihn ins Bett. Morgen kam noch Rechnen und Religion daran, dann konnte er wieder abreisen.
    Es ging am folgenden Vormittag ganz gut. Hans empfand es als bittere Ironie, daß ihm heute alles gelang, nachdem er gestern in den Hauptfächern so Pech gehabt hatte. Einerlei, jetzt nur fort, nach Hause!
    »Das Examen ist aus, jetzt können wir heimreisen«, meldete er bei der Tante.
    Sein Vater wollte heute noch dableiben. Man wollte nach Cannstatt fahren und dort im Kurgarten Kaffee trinken. Hans bat aber so flehentlich, daß der Vater ihm erlaubte, schon heute allein abzureisen. Er wurde auf den Zug gebracht, erhielt sein Billet, bekam von der Tante einen Kuß und etwas zu essen mit und fuhr nun erschöpft und gedankenlos durch das grüne Hügelland heimwärts. Erst als die blauschwarzen Tannenberge auftauchten, kam ein Gefühl von Freude und Erlösung über den Knaben. Er freute sich auf die alte Magd, auf sein Stübchen, auf den Rektor, auf das gewohnte niedere Schulzimmer und auf alles.
    Zum Glück waren keine neugierigen Bekannten auf dem Bahnhof, und er konnte mit seinem
    Paketchen unbemerkt nach Hause eilen.
    »Ist's schön gewest in Stuttgart?« fragte die alte Anna. »Schön? Ja meinst du denn, ein Examen sei was Schönes? Ich bin bloß froh, daß ich wieder da bin. Der Vater kommt erst morgen.«
    Er trank einen Napf frische Milch, holte die vorm Fenster hängende Badhose herein und lief davon, aber nicht zu der Wiese, wo alle anderen ihren Badplatz hatten.
    Er ging weit vor die Stadt hinaus zur »Waage«, wo das Wasser tief und langsam zwischen hohem Gebüsch dahinfließt. Dort entkleidete er sich, steckte die Hand und darauf den Fuß tastend ins kühle Wasser, schauderte ein wenig und warf sich dann mit schnellem Sturz in den Fluß.
    Langsam gegen die schwache Strömung schwimmend, fühlte er Schweiß und Angst dieser
    letzten Tage von sich gleiten, und während seinen schmächtigen Leib der Fluß kühlend umarmte, nahm seine Seele mit neuer Lust von der schönen Heimat Besitz. Er schwamm rascher, ruhte, schwamm wieder und fühlte sich von einer wohligen Kühle und Müdigkeit umfangen. Auf dem Rücken liegend, ließ er sich wieder flußab treiben, horchte auf das feine Summen der in goldigen Kreisen schwärmenden Abendfliegen, sah den Späthimmel von kleinen, raschen Schwalben
    durchschnitten und von der schon verschwundenen Sonne hinter den Bergen hervor rosig
    beglänzt. Als er wieder in den Kleidern war und träumerisch nach Hause schlenderte, war das Tal schon voll Schatten.
    Er kam am Garten des Händlers Sackmann vorbei, in dem er noch als ganz kleiner Bub einmal mit ein paar andern unreife Pflaumen gestohlen hatte. Und am Kirchnerschen Zimmerplatz, wo die weißen Tannenbalken herumlagen, unter denen er früher immer Regenwürmer zum Angeln
    gefunden hatte. Er kam auch am Häuschen des Inspektors Geßler vorüber, dessen Tochter
    Emma er vor zwei Jahren auf dem Eis so gern den Hof gemacht hätte. Sie war das zierlichste und eleganteste Schulmädel der Stadt gewesen, gleich alt wie er, und er hatte damals eine Zeitlang nichts so sehnlich gewünscht, als einmal mit ihr zu reden oder ihr die Hand zu geben.
    Es war nie dazu gekommen, er hatte sich zu sehr geniert. Seither war sie in eine Pension geschickt worden, und er wußte kaum mehr, wie sie aussah. Doch fielen diese Bubengeschichten ihm jetzt wieder ein, wie aus weitester Ferne her, und sie hatten so starke Farben und einen so seltsam ahnungsvollen Duft wie nichts von allem seither Erlebten. Das waren noch Zeiten gewesen, als man abends bei Nascholds Liese im Torweg saß, Kartoffeln schälte und
    Geschichten anhörte, als man sonntags in aller Frühe mit hochgekrempelten Hosen und
    schlechtem Gewissen beim untern Wehr ins Krebsen oder auf den Goldfallenfang gegangen war, um nachher in durchnäßten Sonntagskleidern vom
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