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Unter Tage

Unter Tage

Titel: Unter Tage
Autoren: Thomas Ziegler
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hatte. »Gott sei Dank«, flüsterte er. »Gott sei Dank.« Er war erschöpft. Er fühlte sich zerschlagen wie nach langer, schwerer körperlicher Arbeit. Seine Hände zitterten. Und trotzdem – trotzdem empfand er Zufriedenheit. Erleichterung. Er hatte es jemandem gesagt. Und man glaubte ihm. Vielleicht verstand Flecht wirklich, vielleicht würde auch er nun die Täuschung durchschauen …
    »Wissen Sie, ich habe das bisher noch keinem Menschen erzählt«, murmelte Shreiber. »Es war zu wichtig, viel zu wichtig, und ich konnte nie sicher sein, daß der Feind nicht zuhört. Und ich hatte Angst. Vor dem Unglauben. Keiner außer mir scheint die Anwesenheit des Feindes bemerkt zu haben. Keiner außer mir.« Shreiber schloß die Augen. »Wissen Sie, das Entsetzliche an dieser ganzen Situation ist, daß man sich nicht wehren kann. Man kann nichts tun, nur warten, warten und vorsichtig sein. Denn es gibt keine Möglichkeit, den Feind zu bezwingen.«
    Flecht hob sein leeres Glas, wog es geistesabwesend in der Hand. »Woher wissen Sie«, fragte er leise, »ich meine, woher wissen Sie wirklich, daß der … der Feind Sie bedroht und Sie töten will? Woher wissen Sie das? Und seit wann?«
    Shreiber knetete nervös seine Hände. »Man vergiftet die Lebensmittel, die ich in meiner Küche aufbewahre. Heute morgen wollte man mich in einen Fahrstuhl locken, um mich damit abstürzen zu lassen. Das Öl in der Nordsee. Die Wolken am Himmel. Die steinernen Augen der Helfershelfer. Der Feind hat viele Methoden, viele Möglichkeiten.«
    »Aber woher wissen Sie, daß man Ihre Lebensmittel vergiftet und der Lift eine Falle war? Vielleicht irren Sie sich. Vielleicht … geben Sie sich einer Täuschung hin.«
    Shreiber schluckte. Gott, was war das? Er beugte sich nach vorn, begleitet von den sanften Liebkosungen des Servosessels, und versuchte, in dem Zwielicht Flechts Gesicht zu erkennen.
    »Vielleicht …« Flecht biß sich auf die Unterlippe. »Vielleicht sollten Sie mit einem Arzt darüber sprechen?«
    Shreiber spürte Kälte. Nein! schrie es in ihm. Um Gotteswillen, er mußte sich täuschen! Aber er konnte es nicht leugnen, er konnte sich nicht selbst belügen, als er Flechts Augen fand und in den schattigen Höhlen zwei kristalline Murmeln blitzen sah.
    Und dann – dann empfand Shreiber zum erstenmal an diesem langen Abend die streichelnden, massierenden, stützenden, zärtlichen Hände des Servosessels so, wie sie wirklich waren.
    Metallen. Hart. Feindlich.
     
    Hinter den Wolken.
    Tief unten im Meer.
    Spuren. Keine Beweise.
     
    Eine Falle, dachte Shreiber. Die künstliche Felsgrotte umwölbte ihn, starr und fest, und statt Geborgenheit verbreitete sie nun Sterilität, Kunststofföde. Dies hier war ein Plastikraum, ein kalter, harter Schaumstoffkäse mit tausend Löchern, und wenn man sich konzentrierte und genauer hinblickte, dann sah man die Wimpernhärchen riesiger Augen.
    Der Feind. Dies hier war sein Reich. Es war so offensichtlich, so schrecklich.
    Eine Falle, dachte Shreiber. Und Flecht beobachtete ihn und noch immer klebten in seinen Augenhöhlen gläserne Murmeln; Linsen, Kameraobjekte … Wenn Shreiber doch nur über Macht verfügen würde! Wenn er doch nur einer von denen wäre, die an den Hebeln saßen und ihre Gedanken millionenfach über Zeitungen, Chron, Rundfunk und Video verbreiten konnten … Vielleicht hätte er dann eine Chance, dem Feind zu widerstehen, indem er seine Beobachter und Henker jagen und vernichten, jede Kreatur des Feindes gnadenlos aufspüren ließ … Aber er war Shreiber. Niemand anders. Und das war alles. Und es half nichts, wenn er sich berauschenden Fantasien von Reichtum, Macht und Einfluß hingab. Er mußte fliehen. Augenblicklich, denn dies war die einzige Möglichkeit, die ihm blieb. Fliehen, sich in Sicherheit bringen, irgendwo, wo ihn niemand vermutete und suchte, wo er Ruhe fand.
    »Shreiber?« sagte Flecht. »Geht es Ihnen nicht gut, Shreiber?«
    Flecht, dachte Shreiber, machte seine Sache gut; er beherrschte sogar die feinen Nuancen, die Shreiber zunächst getäuscht hatten. Doch nun wußte er Bescheid. Er bewegte sich verstohlen und spürte sofort den zunehmenden Druck des Servosessels, der ihn unerbittlich zerquetschen konnte.
    Steif und langsam erhob er sich. Nichts geschah. Die Erleichterung über die vorläufige Rettung ließ ihn zittern.
    »Kann ich Ihnen helfen?« fragte Flecht. »Mit Ihnen stimmt doch etwas nicht.«
    »Lassen Sie mich in Ruhe«, schnappte Shreiber und wich
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