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Unter Freunden

Unter Freunden

Titel: Unter Freunden
Autoren: Amos Oz
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etwas länger bei ihm. Sie sprachen nur wenig miteinander, über ihre Schule und seine Arbeit. Manchmal unterhielten sie sich über ein Buch. Oder sie hörten gemeinsam Musik. Schälten ein Stück Obst und aßen es. Nach ungefähr einer Stunde stand sie auf und stellte das Geschirr ins Spülbecken, überließ es aber ihrem Vater, die Sachen zu spülen, und ging zurück ins Schülerwohnheim. Wie und mit wem sie ihre freie Zeit zu verbringen pflegte, darüber wusste Nachum so gut wie nichts. Er wusste, dass die Lehrer mit ihr zufrieden waren, und hatte sich gefreut, als sie aus eigenem Antrieb Arabisch zu lernen begonnen hatte. Ein stilles Mädchen, sagte man im Kibbuz über sie, nicht kapriziöswie ihre Mutter, sondern gewissenhaft und fleißig wie ihr Vater. Schade, dass sie sich die Zöpfe abgeschnitten und sich stattdessen eine kurze Ponyfrisur zugelegt hat. Davor, mit den Zöpfen und dem Mittelscheitel, hat sie wirklich ausgesehen wie eine der jungen Pionierfrauen aus der vorhergehenden Generation.
    Einmal, vor ein paar Monaten, war Nachum abends zu ihr ins Schülerwohnheim gegangen, um ihr einen Pullover zu bringen, den sie bei ihm vergessen hatte. Er fand sie auf ihrem Bett sitzend, mit zwei Freundinnen, die ebenfalls auf ihren Betten saßen, alle drei spielten Flöte und übten immer wieder dieselbe Stelle, eine einfache Tonleiter. Er entschuldigte sich bei den Mädchen für die Störung, legte den zusammengefalteten Pullover auf eine Ecke ihres Betts, wischte eine unsichtbare Staubflocke vom Tisch, entschuldigte sich noch einmal und verließ den Raum auf Zehenspitzen, um sie nicht weiter zu stören. Danach blieb er noch etwa fünf Minuten in der Dunkelheit vor ihrem Fenster stehen und lauschte dem Flötenspiel, das wieder einsetzte: Diesmal war es eine leichte, sich traurig immer wiederholende Etüde, und er spürte plötzlich, wie sich sein Herz zusammenzog. Er ging nach Hause, setzte sich in den Sessel und hörte Radio, bis ihm die Augen zufielen. In der Nacht,zwischen Schlafen und Wachen, drang das Heulen der Schakale von ganz nah in sein Ohr, als wären sie direkt vor seinem Fenster.
    Am Dienstag nach der Arbeit duschte er, zog seine gebügelte Khakihose und das hellblaue Hemd an, hüllte sich in seinen kurzen, abgetragenen Mantel, der ihm das Aussehen eines verarmten Intellektuellen vom Anfang des letzten Jahrhunderts verlieh, putzte mit einem Zipfel seines Taschentuchs seine Brillengläser und war bereit, sich auf den Weg zu machen. Im letzten Moment erinnerte er sich an das Buch Arabisch für Fortgeschrittene , das Edna bei ihm liegengelassen hatte. Er wickelte das Buch mit großer Sorgfalt in Cellophan, klemmte es unter den Arm, setzte seine graue Schirmmütze auf und verließ das Haus.
    Der Regen hatte seine Spuren hinterlassen, auf den Wegen waren kleine Pfützen, und die Blätter der Bäume waren blankgewaschen und dufteten frisch. Er ließ sich Zeit und machte einen Umweg, an den Kinderhäusern vorbei. Er wusste noch immer nicht, was er seiner Tochter und David Dagan sagen sollte, hoffte aber, dass ihm, wenn er vor ihnen stand, etwas einfallen würde. Für einen Moment schien es ihm, als hätte sich diese Geschichte zwischen Edna und David Dagan gar nichtin Wirklichkeit ereignet, sondern wäre nur eine boshafte Phantasie Roni Schindlins und der übrigen Klatschmäuler im Kibbuz. David Dagan würde, wenn er bei ihm ankäme, mit irgendeiner ganz anderen Frau seinen Nachmittagskaffee trinken, einer seiner Ex-Frauen oder der Lehrerin Siwa oder einer neuen jungen Frau, die Nachum nicht kannte. Edna würde überhaupt nicht dort sein, er würde an der Tür einfach ein paar Sätze mit David wechseln, über die politische Lage, über die Regierung, er würde einen Kaffee und auch eine Partie Schach ablehnen, sich verabschieden und sich auf den Weg machen, vielleicht zu Ednas Zimmer im Schülerwohnheim, dort würde er sie lesend antreffen oder Flöte spielend oder Hausaufgaben machend. Wie immer. Und er würde ihr das Buch zurückgeben.
    Der Duft von nasser Erde begleitete ihn auf seinem Weg, vermischt mit dem fernen, scharfen Geruch von gärenden Orangenschalen und Kuhmist aus den Ställen.
    Vor dem Denkmal für die gefallenen Soldaten des Kibbuz blieb er stehen. Nachum richtete den Blick auf den Namen seines Sohnes, Jischaj Ascherow, der vor sechs Jahren bei einem Angriff unserer Armee auf das Dorf Deir A-Nashaf umgekommen war. Alle elf Namen auf dem Denkmal waren in erhabenen Kupferbuchstaben angebracht,
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