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Unter Freunden

Unter Freunden

Titel: Unter Freunden
Autoren: Amos Oz
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auf der Flöte »Zwischen Euphrat und Tigris« und »Spiel, spiel mit den Träumen« vor. Danach verabschiedete sie sich, nahm das Tablett mit hinaus, stellte es auf die Terrassenstufen und machte sich auf ihren Abendspaziergang die Zypressenallee entlang. In der Nacht hörte sie ihn durch die dünne Wand zwischen ihrem Bett und dem seinen husten, doch als sie aufstand und in ihren Morgenmantel schlüpfte, erstarb das Husten, und bis zum Morgen war nichts mehr zu hören.
    Die zweite Esperantostunde wurde verschoben, weil sich einen Tag zuvor Martins Zustand verschlechterthatte und er mit dem Krankenwagen in die Klinik gebracht und auf der Intensivstation unter ein Sauerstoffzelt gelegt worden war. Jeden Vormittag saß Lea Schindlin an seinem Bett, im Auftrag des Gesundheitsausschusses, und am Nachmittag wurde sie von Osnat abgelöst. Martin lag die meiste Zeit mit geschlossenen Augen da. Ab und zu murmelte er etwas, und manchmal lächelte er. Seine Augen lagen tief in den Höhlen, und seine drahtigen Haare standen ihm wirr um den Kopf. Wenn man mit ihm sprach, nickte er. Ein paarmal stammelte er mit letzter Kraft Dankesworte für Osnat und Lea, die abwechselnd an seinem Bett saßen. Gegen Abend beklagte er sich, dass er nicht über genug Konzentration verfüge, um seine Gedanken zu ordnen. Und einmal, als zwei energische Krankenschwestern kamen, um seinen Schlafanzug zu wechseln, kicherte er plötzlich und sagte zu ihnen, eigentlich sei auch der Tod ein Anarchist. »Schließlich hat der Tod keinerlei Respekt vor dem gesellschaftlichen Stand, dem Besitz, der Macht und dem Rang, in seinen Augen sind wir alle gleich.« Diese Worte kamen unklar und abgehackt aus seinem Mund, aber Osnat, die neben ihm saß, verstand sie und spürte, dass Martin ihr lieb und teuer war und dass ihr nur noch wenig Zeit blieb, ihn das wissen zulassen. Doch sie fand keine Worte, sie umfasste nur seine warmen Hände mit ihren kalten.
    Nach fünf Tagen nahmen seine Lungen den Sauerstoff nicht mehr auf, der ihnen zugeführt wurde, und Martin erstickte. Osnat, die neben ihm saß, streichelte über seine Stirn und schloss ihm die Augen. Dann ging sie zum Telefon im Flur, um Joav Karni, dem Kibbuzsekretär, Bescheid zu sagen. Joav schickte einen Lieferwagen mit Fahrer, der Osnat und den Leichnam zurück in den Kibbuz brachte. Dort im Clubraum, in einem mit einem schwarzen Tuch bedeckten Sarg, lag der Leichnam die ganze Nacht und den Morgen bis zur Beerdigung, die auf zehn Uhr festgesetzt worden war. Joav hängte an das Schwarze Brett vor dem Speisesaal eine Ankündigung, die er selbst geschrieben und auf der Schreibmaschine des Sekretariats getippt hatte:
    »Unser Freund und Genosse Martin van den Bergh ist heute Abend verstorben. Die Beerdigung findet morgen früh um zehn Uhr statt.
    Wenn jemand etwas über mögliche Verwandte Martins weiß, soll er Joav bitte möglichst schnell Bescheid sagen.«
    Es waren keine Verwandte zu finden, nur Mitglieder des Kibbuz Jikhat nahmen an der Beerdigung teil. Eswar ein weicher, himmelblauer Morgen, und die Hitze drückte nicht auf die Trauergäste, denn ein angenehmer Westwind wehte und kühlte die Haut. Die Wipfel der Zypressen, die den Friedhof umgaben, zitterten leicht im Wind. Viele Sommerschmetterlinge flatterten durch die Luft und trugen den Duft der Obstplantagen und einen fernen Brandgeruch mit sich. Ungefähr fünfzig, sechzig Frauen und Männer aus dem Kibbuz hatten sich zur Beerdigung versammelt. Alle in Arbeitskleidung, weil die Beerdigung während der Arbeitszeit stattfand. Sie standen um das offene Grab und warteten. Das Warten zog sich etwas in die Länge. Es gab keine religiöse Zeremonie, weil Martin beim zuständigen Ausschuss einen Zettel hinterlegt hatte, auf dem er bat, ohne Kantor und ohne Gebete beerdigt zu werden.
    David Dagan, der Lehrer, sagte einige Sätze in unser aller Namen. Er beschrieb Martin van den Bergh als konsequenten Idealisten, der sein ganzes Leben lang nach seiner Überzeugung gelebt habe. »Bis fast zu seinem letzten Tag«, sagte David Dagan, »hat unser Genosse Martin in der Schusterei gearbeitet, als hätte er die symbolische Verantwortung für jeden unserer Schritte übernommen.«
    Nach ihm sprach Joav Karni im Namen des Kibbuzsekretariats. Er hob hervor, dass Martin sein Leben lang ein einsamer Mann gewesen war, ein Überlebender der Shoah, der jene Jahre in einem Versteck in Holland überdauert hatte. »Er hat mit eigenen Augen gesehen, wie tief Menschen sinken
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