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Unter Freunden

Unter Freunden

Titel: Unter Freunden
Autoren: Amos Oz
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seine Sachen für die Freizeit hingen, und noch eine längliche Kiste mit Metallfüßen, in der er seine Bücher in sechs Sprachen aufbewahrte, philosophische und wissenschaftliche Bücher, vier oder fünf Romane auf Deutsch und Niederländisch und Esperanto, ein paar Lieder- und Wörterbücher sowie eine Bibel mit Illustrationen von Gustave Doré. An der Wand hing ein Bild von Ludwig Lazarus Zamenhof, dem Erfinder des Esperanto, der Sprache, die eines Tages alle Erdenbürger auf allen fünf Kontinenten sprechen würden, um die Trennwände zwischen allen Menschen und allen Völkern niederzureißen, so wie es vor dem Fluch des Turmbaus zu Babel gewesen war.
    Osnat führte Martin zu seinem Bett und streichelte leicht über seine Stirn. Eine kleine Lampe brannte neben dem Bett, und Osnat machte das Deckenlicht aus. Martin schlief nicht im Liegen, sondern im Sitzen, den Rücken mit Kissen in die Höhe gestützt, so fiel ihm das Atmen weniger schwer. Nacht für Nacht saß er in seinem Bett und wartete auf den Schlaf, der, wenn er kam, leicht und unruhig war. Osnat zog ihm die Sauerstoffmaske über Nase und Mund. Darunter schauten die grauen Stoppeln auf seinen eingefallenen Wangen hervor. Sie zog seine Decke zurecht und fragte, ob er noch etwas brauche. Martin sagte: »Nein, danke. Du bist ein Engel.«
    Dann sagte er: »Der Mensch ist von Natur aus gut und großzügig. Nur die Deformation der Gesellschaft macht ihn egoistisch und grausam.«
    Und er fügte hinzu: »Wir alle sind verpflichtet, wieder unschuldig wie Kinder zu werden.«
    Von der Tür aus erwiderte Osnat: »Kinder sind verwöhnte, egoistische und grausame Geschöpfe. Genau wie wir.«
    Aber weil weder er noch sie Kinder hatten und sie sich nicht im Streit voneinander verabschieden wollten, ließen sie diese Unstimmigkeit stillschweigend auf sich beruhen, sie wünschten einander nur eine gute Nacht. Nachdem sie gegangen war, setzte er die Maske ab und zog eine Schachtel Zigaretten unter den Kissen hervor, um noch eine halbe Zigarette zu rauchen. Er drückte sie im Aschenbecher aus, keuchte und setzte sich die Sauerstoffmaske wieder auf. Er atmete schnell und flach und las, den Rücken an die Kissen gelehnt, ein Buch, das ein bekannter italienischer Anarchist geschrieben hatte.Darin stand, dass Herrschaft und Gehorsam der Natur des Menschen widersprächen. Danach döste er im Sitzen, die Sauerstoffmaske über der unteren Hälfte seines Gesichts. Die kleine Lampe machte er nicht aus. Bis zum Morgen brannte sie neben seinem Bett, obwohl Martin der Ansicht war, dass Verschwendung Diebstahl sei und Sparsamkeit ein moralisches Gebot. Doch Dunkelheit machte ihm Angst.
    Osnat hatte das Tablett mitgenommen, auf dem fast alles Essen zurückgeblieben war. Sie stellte es auf die Terrassenstufen. Morgen früh würde sie es auf ihrem Weg zur Arbeit in die Küche zurückbringen. Dann machte sie sich auf einen kurzen Spaziergang entlang der Zypressenallee. Seit Boas sie verlassen hatte und zu Ariela Barasch gezogen war, achtete Osnat auf alles, was um sie herum vorging, auf das, was Vorübergehende sagten, auf das Zwitschern der Vögel und auf das Bellen der Hunde. Zu Beginn des Spaziergangs hatte sie das Gefühl, Martin würde ersticken und nach ihr rufen, aber ihr war klar, dass es sich nur um eine Einbildung handeln konnte, denn selbst wenn er nach ihr riefe, würde sie ihn hier nicht hören können.
    Auf einer Bank am Rand der Zypressenallee saß ganz allein Großmutter Slava in einem weiten Baumwollkleid,ihre Zehen in den offenen Sandalen waren krumm und gerötet. Sie war Witwe und auch eine verwaiste Mutter, ihr Sohn war im Krieg gefallen. Im Kibbuz nannte man sie Hexe oder Scheusal. Wir fürchteten uns alle vor ihr, weil sie jeden beschimpfte, und manchmal spuckte sie jemandem, der sie erbost hatte, sogar ins Gesicht. Osnat wünschte ihr freundlich einen guten Abend, und Großmutter Slava entgegnete bitter und spöttisch: »Nun, was soll das, was ist schon gut an einem so heißen und feuchten Abend?«
    Als sie in ihr Zimmer zurückgekehrt war, goss Osnat sich ein Glas kaltes Wasser mit Zitronensirup ein und zog ihre Sandalen aus. Barfuß stand sie am offenen Fenster und sagte sich, dass vermutlich die meisten Menschen mehr Wärme und Zuneigung brauchten, als die anderen ihnen geben konnten, und dass kein Kibbuzausschuss je dieses Defizit zwischen Bedürfnis und Erfüllung decken konnte. Der Kibbuz, dachte sie, verändert die Gesellschaftsordnung ein wenig, aber die
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