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Unter den Sternen von Rio

Unter den Sternen von Rio

Titel: Unter den Sternen von Rio
Autoren: Ana Veloso
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es in Frankreich üblich war, zwei Küsschen auf ihre Wangen. Anders als üblich traf er dabei allerdings ihre Mundwinkel und streifte beim Seitenwechsel ihre Lippen. Es war eine sehr zärtliche Berührung, und eine sehr intime, die den Wunsch nach mehr weckte.
    Ana Carolina dachte während der Heimfahrt an nichts anderes als daran, wie es wäre,
richtig
von Antoine geküsst zu werden.
     
    Die Woche bis zu ihrer Verabredung zog sich endlos hin. Mit jedem Tag wurden Ana Carolinas Gefühlsschwankungen extremer. Während sie morgens mit einem köstlichen Kribbeln im Bauch erwachte und ihr der trübe Winter plötzlich viel strahlender erschien, war sie nachmittags, in Gesellschaft Maries oder ihrer Tante, oft unausstehlich. Sie empfand ihren Alltag als öde und ihre Verwandten als vollkommen uninspirierend. Die herrschaftliche Wohnung in einem wunderschönen Haussmann-Gebäude erschien ihr wie der Gipfel an Spießbürgerlichkeit, und die Freunde von Marie kamen ihr nun wie die größten Langweiler vor. Doch schließlich hatte die unerträgliche Warterei ein Ende.
    Am Samstagnachmittag floh sie förmlich aus dem Haus. Sie warf Marie eine unglaubwürdige und beleidigende Erklärung hin – »ich muss mal ein wenig frische Luft schnappen, hier drin erstickt man ja vor Tristesse« – und ließ der anderen keine Zeit, sich ihr anzuschließen. Es war noch hell, und sie nahm die Metro bis zur Station »Opéra«. Da sie noch ein wenig Zeit hatte, ging sie in ein Bistro und bestellte sich einen Kaffee. Diesmal würde sie keinen Alkohol anrühren, schwor sie sich, denn Antoine sollte sie ja nicht für eine Trinkerin halten. Sie zog ein silbernes Schminkspiegelchen aus ihrer Tasche und trug ein wenig Rouge sowie Lippenstift auf. Anschließend befestigte sie ein Paar auffälliger Perlenohrringe an ihren Ohrläppchen und rückte ihre Mütze aus Waschbärenfell schief auf den Kopf, was ihr ein koketteres Aussehen verlieh. Um keinen Verdacht aufkommen zu lassen, hatte sie es nicht gewagt, sich zu Hause hübsch zu machen.
    Dann endlich schlenderte sie zu dem großen Filmtheater. Es befanden sich zahlreiche Menschen davor, die offenbar für die nächste Vorstellung anstanden. Trotz des garstigen Wetters, es fiel ein dünner Schneeregen, war die Stimmung auf dem Trottoir gut. Manche Leute hielten Sektgläser in der Hand, andere rauchten, hier und da wurde gelacht, einmal hörte sie auch einen empörten Aufschrei, als ein vorbeifahrendes Auto eine Dame nass spritzte. Ana Carolina warf einen Blick in das überfüllte Foyer des Kinos und beschloss, ebenfalls hier draußen zu warten. Sie suchte Schutz unter dem ausladenden, elegant geschwungenen Vordach und zündete sich eine Zigarette an. Einige Männer sahen sie vorwurfsvoll an – noch immer war die »neue Frau«, die in der Öffentlichkeit rauchte, eine Ausnahme.
    Allmählich dünnte die Menschenmenge aus. Die meisten waren inzwischen nach drinnen gegangen, wo der Einlass begonnen hatte. Ana Carolina ließ ihren Blick durch die großen Fenster hindurch über die plakatierten Wände schweifen. Es war ihr gleich, welcher Film gegeben wurde – was sie suchte, war eine Wanduhr. Als sie eine entdeckte, mochte sie ihren Augen nicht recht trauen. Halb fünf! Hatte dieser Unmensch sie etwa schon wieder versetzt? Oder wartete er drinnen auf sie? Aber nein, dann hätte er doch längst herauskommen und hier draußen nach ihr Ausschau halten müssen, oder etwa nicht?
    Dennoch ging sie hinein. Sie fand ein kleines Café, das allerdings jetzt, da fast alle im Vorführraum verschwunden waren, so gut wie leer war. Von Antoine war nichts zu sehen. Sie nahm Platz, bestellte sich einen weiteren Kaffee und entschied, dass sie, sobald sie diesen ausgetrunken hatte, gehen würde. Aus dem Vorführsaal drang gedämpft die Pianomusik, die den Stummfilm begleitete, sowie gelegentliches Gelächter. Diese akustische Kulisse ließ Ana Carolina ihr einsames Warten noch trauriger erscheinen, als es ohnehin schon war. Sie hätte heulen können. Und der halb anzügliche, halb mitleidige Blick des Kellners, der mit solchen Situationen vertraut zu sein schien, gab ihr den Rest.
    Zur selben Zeit stürmte Antoine aus einem Waggon der Metro, rücksichtslos alle anderen Fahrgäste beiseitestoßend. Er war wirklich vom Pech verfolgt. Erst war sein Wagen wegen der Kälte nicht angesprungen, so dass er zur Metrostation laufen und damit eine viertelstündige Verspätung hinnehmen musste. Dann hatte der
poinçonneur,
der
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