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Unter den Sternen von Rio

Unter den Sternen von Rio

Titel: Unter den Sternen von Rio
Autoren: Ana Veloso
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Geschichte aufzutischen, die ihr viel glanzvoller als die Wahrheit erschien und die sie in einem besseren Licht dastehen ließ. Sie machte sich älter, als sie war, und sie machte sich klüger. Sie konnte ihm schließlich schlecht erzählen, dass sie erst zwanzig war, dass sie gar nichts Sinnvolles tat, weder studieren noch arbeiten, oder dass sie bereits in einer guten halben Stunde aufbrechen musste, weil ihre Tante sie sonst nie wieder allein vor die Tür lassen würde.
    Von ihm erfuhr sie, dass er Pilot war und in einem Komitee saß, das über die Erfolge, Rekorde und Erfindungen in der Fliegerei zu urteilen hatte. Die Fortschritte im Flugzeugbau seien unglaublich, und der Ehrgeiz der Piloten sei es nicht minder. Er berichtete in äußerst unterhaltsamer Weise von den verschiedenen – misslungenen – Versuchen der Flieger, einen Preis über 25 000 US -Dollar für den ersten Nonstop-Flug zwischen Paris und New York einzuheimsen, den ein exzentrischer Hotelier bereits 1919 ausgelobt hatte. Bislang war es niemandem gelungen. Er unterhielt sie mit teils lustigen, teils tragischen Anekdoten von Flugpionieren oder Postfliegern, und er imponierte ihr mit seiner Fähigkeit, Fachwissen so anschaulich zu vermitteln.
    »Dann kennen Sie bestimmt auch meinen … den großen Alberto Santos-Dumont?«, fragte Ana Carolina. Beinahe wäre ihr herausgerutscht »meinen Landsmann«. Himmel noch mal, wieso hatte sie sich eigentlich als Argentinierin ausgegeben? Sie mochte die Nachbarn nicht einmal. War es, weil der Tango hier derzeit so hoch im Kurs stand und man die Argentinier allesamt für leidenschaftliche Menschen hielt, die zu großen Gefühlen fähig waren, während das Klischee des Brasilianers weit weniger schmeichelhaft war?
    »Ja, ich habe seine Bekanntschaft gemacht. Ein eigenartiger Mensch. Gar nicht so, wie man sich die Brasilianer vorstellt.«
    »Wie stellen Sie sich die denn vor?«
    »Nun ja, temperamentvoll, ausgelassen, fröhlich, ein wenig undiszipliniert …«
    Ana Carolina besann sich auf ihre falsche Identität, über die sie nun wieder froh war, und ergänzte: »… eine Bande von faulen Nichtsnutzen.«
    Antoine lachte darüber. »Ich habe schon gehört, dass man in Argentinien so seine Probleme mit dem Nachbarland hat.«
    »Allerdings. Ein unerfreuliches Thema. Lassen Sie uns lieber über Europa reden. Über Paris. Kommen Sie von hier?«
    »Ich lebe seit vier Jahren hier. Ich komme aus einem kleinen Dorf, das Sie nicht kennen werden.«
    Und so plauderten sie angeregt weiter, lachten, tranken und genossen die Gesellschaft des anderen. Ana Carolina fand sich ernst genommen wie lange nicht mehr, sie fühlte sich lebendig, begehrenswert und schön. Es war herrlich. Doch ein zufälliger Blick auf die Wanduhr ließ sie erschrocken zusammenzucken.
    »Jesus und Maria, es ist schon nach zehn! Ich muss aufbrechen.«
    »Haben Sie noch eine andere Verpflichtung heute Abend?«
    »So könnte man es sagen.«
    »Sehen wir uns wieder?«
    »Sehr gern.«
    »Wie erreiche ich Sie?«
    Ana Carolina überlegte fieberhaft, wie sie diese Klippe umschiffen sollte. Sie konnte ihm unmöglich Adresse oder Telefonnummer geben. »Gar nicht. Lassen Sie uns eine neue Verabredung treffen. Bei der Sie dann bitte schön auf mich warten werden.«
    »Und zu der Sie pünktlich erscheinen?«
    »Ich versuche es.«
    Antoine schmunzelte. Er kritzelte eine Nummer auf einen Bierdeckel und gab ihn ihr. »Hier erreichen Sie mich. Falls Sie es sich anders überlegen sollten.«
    »Anders als was? Mir muss entgangen sein, dass wir schon etwas ausgemacht hatten.«
    »Sonderbar. Mir war so, als hätten Sie zugestimmt, sich mit mir im Lichtspielhaus am Boulevard des Italiens zu treffen, und zwar am kommenden Samstag um 20  Uhr.«
    »Oh, da habe ich bereits etwas vor. Sollen wir nicht lieber die Nachmittagsvorstellung besuchen?« Ana Carolina beglückwünschte sich im Stillen für ihre schnelle Reaktion. Ein weiterer abendlicher Ausgang wäre schier unmöglich zu bewerkstelligen, jedenfalls nicht, ohne Marie einzuweihen.
    »Einverstanden. Also um 16  Uhr vor dem Filmtheater?«
    Ana Carolina nickte. Leise lächelnd sagte sie: »Ich freue mich.«
    Antoine sah ihr tief in die Augen. »Nicht so sehr wie ich.«
    Nachdem er bezahlt hatte, half er ihr in den Mantel und begleitete sie nach draußen, um ein Taxi zu rufen. Der Wagen kam, und er öffnete ihr die Tür. Gerade als sie einsteigen wollte, nahm er ihre Hand, zog Ana Carolina zu sich heran und hauchte, wie
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