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Unter den Sternen von Rio

Unter den Sternen von Rio

Titel: Unter den Sternen von Rio
Autoren: Ana Veloso
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Fahrkartenknipser, irgendetwas an seinem
billet
erster Klasse auszusetzen gehabt und ihn gezwungen, ein anderes Ticket zu kaufen. Schließlich war die Untergrundbahn auf halber Strecke auch noch minutenlang stehen geblieben. Jetzt war es Viertel vor fünf. Wenn die schöne Caro sich noch am verabredeten Ort befände, wäre das ein Wunder.
    Natürlich war sie nicht mehr dort. Antoine glaubte nicht, dass sie allein in den Vorführsaal gegangen war. Oder sollte er lieber einmal dort nachsehen? Es war ihm herzlich egal, ob das Publikum ihn beschimpfen würde, wenn er sich in den Saal stellte und laut »Mademoiselle Caro« rief. Was konnte es schaden? Er begab sich auf den Weg dorthin, doch ein Platzanweiser hielt ihn auf und fragte nach seiner Karte. Herrgott, fluchte Antoine im Stillen, wie viele solcher wichtigtuerischer Ticketknipser gab es eigentlich in Paris? »Ich will den Film gar nicht sehen«, erklärte er dem Burschen, »ich suche nur eine Bekannte.«
    »Wenn es eine junge, hübsche Dame mit südländischem Aussehen ist …«
    »Ja?«
    Der junge Mann wand sich verlegen in seiner Pagenuniform, bis Antoine endlich begriff, dass er die gewünschte Information nur gegen ein Trinkgeld herausrücken würde. Er gab ihm die stolze Summe von 50  Centimes.
    »Die Demoiselle hat im Café gewartet. Sie ist vor fünf Minuten gegangen.«
    Ana Carolina hatte, als sie die Treppe zur Metro hinabstieg, einen Blick auf jemanden erhascht, der wie Antoine aussah. Aber er war zu weit weg gewesen und zu schnell die Treppe hochgerannt, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, als dass sie hätte sicher sein können. Wahrscheinlich war es nur Wunschdenken. Und selbst wenn er es gewesen wäre: Mit einem so unzuverlässigen und unhöflichen
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wollte sie sich nicht abgeben.
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sie sich nicht abgeben. Gewollt hätte sie schon. Auch wenn sie wusste, dass es nicht gut für sie war.
    In den folgenden Tagen überlegte Ana Carolina, ob sie ihn trotz allem anrufen sollte. Sie legte sich Erklärungen für ihn zurecht, redete sich die Sache immer schöner, fand unzählige Entschuldigungen für ihn. Viele Male war sie versucht, zum Telefon zu greifen und ihren Seelennöten ein Ende zu bereiten. Denn sie litt fürchterliche Qualen: Sie hatte sich verliebt, Hals über Kopf, in einen Mann, von dem sie weder den Familiennamen noch die Adresse kannte und von dem sie nicht mehr wusste, als dass er der bestaussehende und aufregendste Mann war, dem sie je begegnet war. Einmal war sie sogar schon so weit gewesen, eine Verbindung herstellen zu lassen. Doch das Fräulein vom Amt meldete sich nicht zurück, und Ana Carolina deutete dies als einen Wink des Schicksals. Es sollte nicht sein. Und so gewann allmählich ihr Verstand – und mit ihm die Wut – wieder die Oberhand. So wahr sie Ana Carolina Castro da Silva hieß: Sie würde keinem Mann je hinterherrennen.
     
    Als sie Wochen später nach Portugal abfuhr, der letzten Station ihrer Europareise, hatte sie sich weitgehend gefasst. Das Verhältnis zu Marie, das bedenklich abzukühlen gedroht hatte, war wieder so herzlich wie vor dieser lächerlichen Episode mit Antoine, und auf dem Bahnsteig umarmten und küssten sie sich unter Tränen. Als der Zug sich endlich schnaubend in Bewegung setzte, stand Ana Carolina am geöffneten Fenster ihres Abteils und winkte. Tante Joana, Onkel Max, Marie und ihr inoffizieller Verlobter Maurice waren alle mit zur Gare de Lyon gekommen, und gemeinsam hatten sie in dem prunkvollen Bahnhofsrestaurant »Le Train Bleu« zu Mittag gegessen.
    Ihr letzter Gedanke, bevor sie Paris verließ, galt Maries flatterndem Taschentuch. Was für ein dürftiges Geburtstagsgeschenk, ging es Ana Carolina durch den Kopf. Sie hatte schnell Maries Initialen in ein Dutzend Tücher hineingestickt – sie sahen ganz sicher nicht danach aus, als sei dafür der Besuch einer Spezialistin erforderlich gewesen.
    Beschämt und zugleich gerührt ließ Ana Carolina sich auf die mit rotem Samt gepolsterte Bank fallen. Und jetzt endlich ließ sie ihren Tränen freien Lauf.

[home]
    Teil 1
    Rio de Janeiro, Januar – Februar 1926
    1
    D ieses verfluchte Ding! Ana Carolina schaute verzweifelt auf die drei Scherben, die vor ihr auf dem Tisch lagen. Da hatte sie nun Porzellankitt besorgt und die drei Teile mit größter Sorgfalt zusammengefügt, doch sobald sie ihre Hand von dem geflickten Döschen löste, brach es wieder auseinander. Verdammt! Es handelte sich um ein altes Stück, das zwar weder antik
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