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Unter den Linden Nummer Eins

Unter den Linden Nummer Eins

Titel: Unter den Linden Nummer Eins
Autoren: Jürgen Ebertowski
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Straßenzüge rund um den Savignyplatz ähnelten mehr und mehr den Bildern, wie sie die Wochenschau aus den russischen Großstädten zeigte.
    Opa Giesecke öffnete nur noch zwei Stunden am frühen Abend, länger reichte das Bier nicht. – Sofern man das labberige Gebräu, das jede Woche nach anderen Ersatzstoffen schmeckte, überhaupt noch Bier nennen konnte. Deutschland trank Ersatzkaffee, strich Kunsthonig auf feuchte Brötchen, deren Teig mit Rübenschnitzeln oder noch Undefinierbarerem gestreckt worden war; selbst Schreibtinte mußte man sich mit einem übelriechenden Pulver der Firma Pelikano anrühren.
    Die Berliner, die noch im Sommer zuvor in Scharen die Schwimmbäder und Seen der Stadt besucht hatten, waren zu bleichgesichtigen, unterernährten Kellerbewohnern verkommen.
    Karl fand das Bier ungenießbar, aber die Kneipe war dennoch gut besucht. Die Sonne bot den Leuten der Umgebung für kurze Zeit eine kostbare Illusion: die Illusion von Normalität inmitten all der Trümmerhaufen, eine Illusion, die spätestens wieder beim Aufjaulen der Sirene auf dem Dach der Kaiser-Friedrich-Schule abrupt zerstob.
    Vera tauschte mit einem Artistenkollegen Neuigkeiten aus, als Karl sich zu ihnen an den Tisch setzte.
    »Lange nicht gesehen, Friedel!«
    »Tach, Karl. Bin auch bloß auf Stippvisite.« Er senkte die Stimme. »Morgen geht’s nach Breslau. Habe die Ehre, in einem von diesen bescheuerten Durchhaltefilmen mitzuspielen. – Entschuldigt mich für ’nen Moment, aber wenn ich nur daran denke, muß ich augenblicklich ganz schrecklich dringend aufs Klo. – Hier, damit ihr euch während meiner Abwesenheit nicht langweilt!« Er schnitt eine Grimasse, warf das 12-Uhr-Blatt auf den Tisch und beugte sich tief zu ihnen herunter. »Bei mir überlebt er nicht!«
    Vom 12-Uhr-Blatt fehlte die Titelseite, die Hitler, Mussolini und seine ihm ergebenen Paladine vor der zerstörten Lagebaracke der Wolfsschanze zeigte.
    »Breslau«, sagte Vera. »Als Doris noch bei den Venduras war, sind wir oft im Prinzenpalast aufgetreten.« Sie schüttelte sich. »Jetzt soll dort ein Lager für polnische Zwangsarbeiter sein.«
    Die großen Berliner Häuser, der Wintergarten , die Scala und Carows Lachbübne , existierten auch nicht mehr. Außer im Oriental gab es in der Hauptstadt kaum noch privates Kleinkunstprogramm, und die ersten Gerüchte gingen um, daß Goebbels bald alle Vergnügungsstätten zumachen würde.
    Ein Mann betrat das Lokal. »Das ist er«, flüsterte Vera. Karl las plötzlich aufmerksam das 12-Uhr-Blatt .
    Birgit, die sich mit Opa Giesecke am Tresen unterhalten hatte, erhob sich und kam an den Tisch. Vera gab ihr ein verschnürtes Päckchen. Der Mann bestellte ein Bier und verschwand im hinteren Gastraum. Birgit folgte ihm.
    Vera sagte leise: »Ist was?«
    »Später«, flüsterte Karl. »Er darf mich nicht erkennen.«
    Karl schien in die Lektüre vertieft, als Vera sagte: »Jetzt kommt er wieder.«
    Der Mann trank hastig sein Bier am Tresen aus und bezahlte.
    »Jetzt geht er«, flüsterte Vera.
    Birgit trat in den Schankraum, nickte Vera zu und setzte sich zu Opa Giesecke.
    »Es hat geklappt«, sagte Vera. »Zehn neue Brotkarten. – Wieso durfte er dich nicht erkennen?«
    »Das war Fretzel«, sagte Karl. »Und ich ahne auch, von wem er die Karten hat.«
    » Fretzel? Das eben war Fretzel? «
    »Ja«, sagte Karl. »Morgen weiß ich mehr.«
    Kassner hatte Rezeptionsdienst, Stanner seinen freien Tag. Karl vergewisserte sich, daß niemand im Hausmeisterkeller war, dann öffnete er mit dem Generalschlüssel den Druckraum. Er schloß hinter sich ab und schaltete das Licht an. Er mußte nicht lange suchen.
    Stanner hatte vergessen, die Kiste mit den Papierresten unter der Schneidemaschine zu leeren. Allein das Vorhandensein von millimeterbreiten Papierstreifen in der Stärke und Farbe der Brotkarten würde ausreichen, um ihn und Kassner an den Galgen zu bringen.
    Das Versteck der Druckplatte fand er auch. Richard führte ihn durch eine zufällige Bemerkung auf die Spur.
    »Ist Fräulein Plinz mit Kassner … verlobt?«
    »Wie kommst du darauf?«
    »Er ist neuerdings ständig bei ihr in der Telefonzentrale.«
    Die Plinz verwahrte die Druckplatte in einem Eimer mit Löschsand.

10.
    » I CH BEFEHLE: E S IST IN DEN G AUEN DES G ROSSDEUTSCHEN REICHES AUS ALLEN WAFFENFÄHIGEN M ÄNNERN IM A LTER VON 16 BIS 60 J AHREN DER D EUTSCHE V OLKSSTURM ZU BILDEN.«
    Die Adlons blieben häufiger in ihrer Villa in Neufahrland und kamen nur noch
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