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Unter dem Baum des Vergessens -: Ein Leben in Afrika (German Edition)

Unter dem Baum des Vergessens -: Ein Leben in Afrika (German Edition)

Titel: Unter dem Baum des Vergessens -: Ein Leben in Afrika (German Edition)
Autoren: Alexandra Fuller
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müssen, wenn es noch keinen gegeben hätte. Während des Buschkriegs in Rhodesien verzichtete sie sogar auf den gälischen Schlachtruf ihrer Familie und suchte sich ihren eigenen. Sie entlieh ihn aus einem Song von Cliff Richard and the Shadows, in dem es um einen brasilianischen Banditen ging, der mit dem Revolver der Schnellste war und schoss, um zu töten, und damit war Mums Interesse am Wortlaut des Textes eigentlich schon erschöpft. Tatsächlich kam sie über das erste Wort meist nicht hinaus – ein laut ausgerufenes »Olé!«, das es allen, die des Gälischen nicht mächtig waren, leichter machte, dafür hatten diejenigen das Nachsehen, die kein Spanisch sprachen. Vanessa und ich übersetzten das Wort mit »Hooray!«. Die Bedeutung war ohnehin klar: Hier kam meine Mutter, sie war bewaffnet, und – man durfte seinen schändlichen Kommunistenarsch darauf verwetten – sie war gefährlich.
    Meine Großmutter gab ihrem ersten Kind die Namen Nicola Christine Victoria – drei Taufnamen als Trost für all die Kinder, die sie bis zur Geburt dieses ersten bei Fehlgeburten verloren hatte. Nicola zum Gedenken an einen Nichols-Zweig ihrer Familie, Christine nach der Hauswirtschafterin in Waternish, die meiner Großmutter während der Geburt beigestanden hatte, und Victoria, weil meine Mum nur gut einen Monat nach dem D-Day zur Welt gekommen war.
    Zusammen mit Nicola Christine Victoria waren am selben Tag auf Waternish noch zwei andere Kinder zur Welt gekommen – ein kleiner Babyboom. Die beiden anderen Kinder beanspruchten ihren Platz in der Chronik neben meiner normalerweise im Mittelpunkt stehenden Mutter, weil bei einem von ihnen später eine Art Zwergwuchs diagnostiziert wurde und bei dem anderen die Füße verkehrt herum gewachsen waren. »Die Glückliche«, soll meine Großmutter gesagt haben, als sie davon erfuhr, »das kommt ihr zustatten, wenn sie später mal Schermesserfische fangen will.«
    »Wieso Schermesserfische?«, frage ich.
    »Schermesserfische«, erklärt Mum, »leben am Strand im sandigen Grund. Man schleicht sich rückwärts an sie heran.«
    Obwohl sie bis auf ein kurzes Zwischenspiel in England ihr ganzes Leben in Afrika verbracht hat, begreift sich Mum – was ihre Herkunft betrifft – als tausendprozentige Hochlandschottin. Ihr Vater war Engländer, aber das zählt nicht, sagt Mum; schottisches Blut (insbesondere das der Hochlandsorte) löscht englisches Blut aus. Wie zum Beweis kommen Mum bei Dudelsackmusik regelmäßig die Tränen, und einmal hat sie sogar versucht, einen Koffer voll Haggis durch den sambischen Zoll zu schmuggeln (damals hatte sie eine manische Phase, muss der Ordnung halber dazugesagt werden). Tatsächlich wechselt ihre Augenfarbe von Grün zu einem hellen Gelb, wenn sie sich über etwas aufregt oder im Begriff ist, ernstlich den Verstand zu verlieren. Außerdem hat Mum eine Art zweites Gesicht, das heißt, sie hat Zugang zu unsichtbaren Welten und etwas seltsame Einstellungen zu Dingen wie Erleuchtung, Prophezeiung und Visionen. Sie glaubt an Geister und Feen.
    Diese Gabe ist ihr von ihrer gar zu zweitausend Prozent hochlandschottischen Mutter vererbt worden, deren Fähigkeit hellzusehen so ausgeprägt war, dass sie mit verblüffender Exaktheit die Zukunft voraussagen konnte. »Das wird mit Tränen enden, ihr werdet es sehen«, pflegte meine Großmutter mehrmals am Tag zu sagen. Meine Großmutter unterhielt sich allen Ernstes und mit größter Nonchalance mit Feen und Geistern, vorzugsweise nach dem zweiten vormittäglichen French Coffee mit Gin, der ihr in den späten Lebensjahren zur Gewohnheit geworden war (allerdings war sie es auch, die behauptet hatte, nach elf Uhr vormittags im Kreis gehen zu müssen, weil das eine Bein kürzer sei als das andere, also ist das alles mit Vorsicht zu genießen).
    Ich dagegen scheine nichts von Mums Hang zur Gewalt geerbt zu haben. Ich bin nicht hellsichtig wie meine Großmutter. Ich gebe nicht jedes Mal, wenn wir alle zu viel getrunken haben, einseitige Unabhängigkeitserklärungen ab. Meine Augen sind dunkelgrün und bleiben dunkelgrün, und wenn ich noch so wütend oder erregt bin. Ich sehe durchaus die Schönheit von Schottland oder Teilen davon, aber ich sinke nicht auf die Knie, sobald ich den Fuß auf den Boden der Isle of Skye setze und die Torfluft atme. Und obwohl eins meiner Beine kürzer als das andere ist, pflege ich nicht im Kreis zu gehen, nicht einmal wenn ich betrunken bin.
    »Daran sieht man«, sagt Mum, »dass du
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