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Unsere schoenen neuen Kleider

Unsere schoenen neuen Kleider

Titel: Unsere schoenen neuen Kleider
Autoren: Ingo Schulze
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Pseudokritik ist affirmativer als jede Lobpreisung oder Rechtfertigung des Bestehenden, denn sie erkennt grundsätzlich an, was gar nicht vorhanden ist.
    Damit hatte Franz Fühmann einen Anspruch formuliert, der kaum einzulösen war. Konsequenterweise hätte das nämlich bedeutet, bei jedem Gespräch, in jedem Text, ja bei jeder Äußerung ein oder mehrere ceterum censeo hinzuzufügen, ein »Im Übrigen meine ich, dass die Mauer abgerissen werden solle«. Denn solange ich die Mauer nicht erwähnte, akzeptierte ich die falsche Voraussetzung, die allem zugrunde lag und die keine freie Entscheidung zuließ. Die Mauer, sofern ich sie verschwieg, diskreditierte gleichermaßen Kritik wie Zustimmung. Dass man dieses ceterum censeo lange nicht äußern konnte, ohne aus den Zusammenhängen der Gesellschaft verbannt zu werden, bedeutete aber nicht, dass man es nicht mitdachte. Es war bestimmend für die eigene Haltung.
    1962 geboren, erlebte ich in den achtziger Jahren, wie die Herrschenden von Jahr zu Jahr mehr in die Defensive gerieten. Der Freiraum, in dem gesprochen, argumentiert und gehandelt werden konnte, vergrößerte sich Schritt um Schritt, Buch um Buch, Artikel um Artikel wie auch mit jedem im Alltag erkämpften Zugeständnis. Obwohl ich mir Veränderungen, wie sie im Herbst 1989 kommen sollten, nicht vorstellen konnte, war ich dennoch davon überzeugt, dass sich allmählich etwas bewegen würde. Und ich fühlte mich am richtigen Platz. Ich beanspruchte für mich die Rolle des Kindes, das durchschaute und kapierte, was da gespielt wurde. Schwierig war das nicht, weil eigentlich die meisten, zumindest jene, mit denen ich sprach und deren Nähe ich suchte, Ähnliches beobachteten. Deshalb machten wir auch so viele Witze über die abgewetzte Unterwäsche des Kaisers und über seine dünnen, faltigen Beinchen, auf denen er einherstolzierte, wackliger mit jedem Jahr. Die Kammerherren aber, die sich nicht oft genug nach der Schleppe des Kaisers bücken konnten, eigneten sich nicht einmal mehr für Witze, so erbärmlich waren sie.
    Und plötzlich hielten sich ein paar Handwerksburschen, Marktfrauen und Bänkelsänger nicht mehr ans Wispern und Tuscheln, sondern riefen: »Der Kaiser hat ja gar nichts an!« Und dabei lachten sie laut. Die Umstehenden erschraken, als müsste nun ein Blitz vom Himmel niederfahren und das übermütige Volk strafen. Andere warnten, es nicht zu toll zu treiben. Statt eines Flecks fanden sie jetzt drei oder vier Flecke auf des Kaisers neuen Kleidern. Sich mehrfach verbeugend, baten sie ihn, sein Gewand doch bitte reinigen zu lassen.
    Während einer der vielen Diskussionen im Herbst 1989 nahm mich auch eine Freundin ins Gebet: Wenn wir nicht wüssten, wie der Staat funktioniere, wenn wir nicht mal in der Lage seien, den Rat der Stadt vom Rat des Kreises zu unterscheiden, und nicht wüssten, wer wofür zuständig sei, sei es lächerlich, Veränderungen zu fordern. Man müsse doch wissen, wie ein Staat, ein Kreis, eine Stadt funktioniere, wenn man die jetzigen Herren ersetzen wolle. Auch ihr ging es um Veränderungen, aber um konkrete Veränderungen. Bei aller Sympathie konnte sie in mir und meinesgleichen nur Revoluzzer sehen, die viel Radau machten, aber den Staat, den sie verbessern wollten, ins Chaos stürzten.
    Ich weiß nicht mehr, was ich ihr damals geantwortet habe. Aber uns ging es ja nicht darum, einen besseren Vorsitzenden des Rates des Kreises zu wählen oder einzelne Gesetze zu ändern. Uns ging es tatsächlich ums Große und Ganze.
    Und auf einmal erfüllte sich alles wie im Märchen. Wir riefen: Die Mauer muss weg! Und die Mauer verschwand. Wir riefen: Neues Forum zulassen! Und das Neue Forum wurde zugelassen. Wir riefen: Demokratie jetzt oder nie! Und die Demokratie kehrte ein. Wir riefen: Die Stasi muss weg! Und die Stasi verschwand – zumindest von der Bildfläche. Wir riefen: Freie Wahlen! Und es gab freie Wahlen. Der Ruf »Der Kaiser hat ja gar nichts an!« hatte tatsächlich Folgen. Kaiser und Hofstaat waren schockiert und suchten das Weite, wobei Krone und Zepter, die Insignien der Macht, auf der Flucht verlorengingen. Das wurde sogleich als Menetekel gedeutet, diesem Staat sei nicht mehr zu helfen und er sollte seine de facto gar nicht mehr vorhandene Souveränität auch de jure aufgeben und sich schleunigst einem anderen anschließen.
    Sehe ich mir diesen DDR -Hofstaat an, sind es vor allem zwei Aspekte, die mich interessieren. Der eine ist positiv: Die Art und Weise, wie die
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