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Unser Mann in London

Unser Mann in London

Titel: Unser Mann in London
Autoren: Moritz Volz
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Truthahnbraten, Backkartoffeln und weich gekochtem Gemüse. Quer durch das Wohnzimmer hängen dann ein oder gar zwei Wäscheleinen. An ihnen haben die Londoner die Weihnachtskarten befestigt, die ihnen zugeschickt wurden. Viele Engländer schreiben über 100 Karten.
    Als ich noch bei den Flints wohnte, saß ich mit ihnen täglich im Wohnzimmer zusammen, und trotzdem überreichten sie mir feierlich eine Weihnachtskarte. An Weihnachten schreiben die Nachbarn, mit denen man noch nie über etwas anderes als das Wetter geredet hat, der Arbeitskollege, über den man sich jeden Morgen ärgert, und der Handwerker, der einem die Klospülung mit heißem Wasser gefüllt hat. Aber genau wie sie schreiben auch die besten Freunde nie etwas Persönliches in diesen Karten. Ein Vordruck wünscht
Merry Christmas
, darunter wird dann einfach unterschrieben.
     
    Für ein Land, das sich dem Erhalt seiner Traditionen mit stoischem Ernst widmet, ist Weihnachten natürlich eine einzigartige Gelegenheit: Hier kann man sich wunderbar vormachen, alles sei noch so, wie es schon immer war. So setzten sich in den Arsenal-Jugendmannschaften Jungs, die ansonsten wenige Sätze ohne
fuckin’
bilden konnten, für unsere Weihnachtsfeier Kronen aus Samtpapier auf. Gemeinsam sangen wir dann
Silent night
.
    Über die Weihnachtsfeier der Firmen oder Vereine wird schon im Juli und noch im Juni gesprochen. Den gesamten Dezember hindurch können sich Paare oder gar einzelne Gäste in London kaum noch zum Essen in Restaurants trauen. Sie würden sich schrecklich verloren vorkommen zwischen all den schrillen Betriebsweihnachtsfeiern. Auf ihnen lässt sich lernen, wie Anarchie funktioniert: Alles ist erlaubt, alles wird entschuldigt. Chefs, die vor der gesamten Betriebsmannschaft wild mit der Sekretärin herumknutschen, seriöse Familienväter, die dem Geschäftspartner, während er auf Toilette ist, ins Bierglas pinkeln – am nächsten Tag in der Firma schaut sie niemand schief an, denn es war in Ordnung, was an allen anderen Tagen des Jahres schrecklich wäre; es war doch die Weihnachtsfeier. Betriebsweihnachtsfeiern finden in London noch im Januar statt, weil im Dezember alle Restaurants ausgebucht sind und die Feier trotzdem auf jeden Fall sein muss.
     
    Wir Profifußballer feierten Weihnachten schnell zwischen Training und Spielvorbereitung im Hotel. Am Vormittag des ersten Weihnachtsfeiertags wurde noch trainiert, dann durften wir für das Familienfest kurz nach Hause, ehe wir uns abends im Hotel trafen, um uns für das Match am kommenden Tag zu sammeln. Beim Abendessen genehmigte der Trainer uns ein Glas Sekt, wir stießen an, «Frohe Weihnachten!», und dann gingen wir auf die Zimmer zum Fernsehen.
    Am zweiten Weihnachtsfeiertag erweiterte ich meine persönlichen Weihnachtstraditionen. Ich schaute mir immer vormittags vor dem Spiel auf dem Hotelzimmer den Beginn des Winterschlussverkaufs im Fernsehen an. Pünktlich um elf öffneten die Wärter die Türen des Kaufhauses
Selfridges
auf der Oxford Street. Es standen schon Dutzende Schnäppchenjäger vor der Tür. Alle Jahre wieder löste das Öffnen der Türen ein Geschubse und Gedränge aus. Da fuhren elegante Damen die Ellenbogen aus und schlugen Großmütter mit der Handtasche nach Konkurrentinnen. Die Tatsache, dass der Winterschlussverkauf schon am 26. Dezember beginnt, hat auch Auswirkungen auf die Weihnachtsgaben der Londoner. Viele verschenken mittlerweile Gutscheine statt Geschenke, weil man nur einen Tag später doch deutlich mehr für das Geld bekommt.
    Boxing Day
heißt der zweite Weihnachtsfeiertag in Großbritannien. Es gibt verschiedene Theorien, woher der Ausdruck stammt. Manche Historiker glauben, der Name beziehe sich auf die vergangene Tradition, armen Leuten an diesem Tag Essen in Kartonschachteln (boxes) zu bringen. Andere erinnern sich, dass früher die Arbeiter den Weihnachtsbonus in diskreten Schachteln ausbezahlt bekamen.
    Der englische Fußballverband versuchte, den Spielplan so zu steuern, dass die Mannschaften für die Partien am Boxing Day wenigstens nicht weit reisen mussten. Die Londoner Teams spielten am zweiten Weihnachtsfeiertag, sooft es ging, gegeneinander.
    Spiele am Boxing Day, besagt die Legende, seien anders, ein wenig verrückt. Es liege an der besonderen, der inspirierenden Atmosphäre. Ich könnte mir vorstellen, dass die ungewöhnlich unterhaltsamen Partien in früheren Jahren doch eher dem freizügigen Alkoholkonsum der Spieler am Weihnachtsabend vor dem
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