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Unser Mann in London

Unser Mann in London

Titel: Unser Mann in London
Autoren: Moritz Volz
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die
Sun
oder der
Mirror
herum. Gegen diese Boulevardblätter mit ihren bunten Überschriften und nackten Brüsten wirkte die
Daily Mail
in ihrer Aufmachung geradezu staatstragend, mit dem Löwen, dem Einhorn und der Krone im Zeitungswappen und dem konservativen schwarz-weißen Layout. Vor den echten Qualitätszeitungen wie dem
Guardian
oder
Telegraph
hatte ich angesichts meines überschaubaren Englisch-Vokabulars noch zu viel Respekt. Der scharfe Humor der Regenbogenblätter
Sun
und
Mirror
erschloss sich mir nur selten, außerdem trug ich die Vorurteile eines braven deutschen Schülers mit mir herum, der gelernt hatte, dass die englischen Boulevardzeitungen derart schlimm seien, dass man schon vom Anfassen krank werden könnte. So wurde die
Daily Mail
meine erste regelmäßige Lektüre, weil ich sie mit einem seriösen Blatt verwechselte.
    Qualitätsboulevard nennt die
Mail
ihren Stil. Was immer das ist. Als Zentralorgan des Wasserhahn-Englands befindet sie sich in einem konstanten Zustand der Empörung, weil die Welt partout nicht mehr sein will, wie sie einmal war.
    «Zu Hause kürzt die englische Regierung den Haushalt – aber an Auslandshilfe haut sie mehr Geld raus als jedes andere Land.»
    «Lehrer von einer muslimischen Gang geschlagen und aufgeschlitzt – nur weil er Religionsunterricht gab.»
    «Die Einwanderung erreichte letztes Jahr einen Fast-Höchststand.»
    «Die Hälfte unserer Soldaten übergewichtig.»
    «Doch, die meisten von ihnen sind noch Engel. Aber warum gibt es in Großbritannien neuerdings so viele Krankenschwestern ohne ein Fünkchen Mitgefühl?»
    Und das waren nur die Überschriften eines einzigen Tages.
    Die
Daily Mail
setzt keine Ausrufezeichen hinter ihre Schlagzeilen. Das soll ihnen den Anschein geben, es handle sich um unumstößliche Fakten. Es treibt die Heuchelei auf die Spitze. Die Zeitung tut ganz ruhig, seriös und macht in Wirklichkeit nichts anderes, als Ängste zu stimulieren. Die
Daily Mail
ist immer dagegen. Anti-Immigration, Anti- EU , Anti-alles. Nur zu Tieren ist sie nett. «Ein Paradies für Pinguine», steht als Überschrift an diesem gewöhnlichen Tag zwischen all den schlimmen, schlimmen Notizen aus der Welt der Menschheit.
    Jeden Tag verkauft die
Mail
zwei Millionen Exemplare. In der gesamten Welt werden nur elf Zeitungen häufiger gelesen, in England einzig die
Sun
.
    Was mich dabei vor allem verblüffte, als ich schließlich verstand, was ich las, war die absolute Abwesenheit von Ironie in der
Daily Mail
. Die
Sun
oder der
Mirror
, die vermeintlichen Teufelsblätter, sind oft zum Totlachen komisch, meist mit ihren Wortspielen auf schlagfertige Art humorvoll; außer vermutlich für diejenigen, auf deren Kosten der Spaß geht. Nachdem islamische Terroristen ein Attentat in London etwas dilettantisch geplant hatten, titelte die
Sun
wunderbar doppeldeutig: «Deppen-Terror».
    Die Welt dagegen, die uns die
Daily Mail
offenbart, ist durchweg grimmig ernst. Wer nach der Lektüre durch London läuft, fragt sich, wo diese schaurige Welt wohl existieren mag. Die Wirklichkeit in London ist auf den ersten Blick das Gegenteil vom Entwurf der Zeitung. Die Stadt wird geprägt von Toleranz, Höflichkeit und Humor. Doch werden diese hervorstechenden, lebensfrohen Londoner Werte von demselben höheren englischen Sinn für das Bewahren von Traditionen getragen wie die Skepsis der
Mail
.
    Als frisch angekommener Ausländer findet man vermutlich oft zu schnell etwas «typisch» für die neue Heimat, doch eine kompetente Stimme wie die Oxforder Verhaltensforscherin Kate Fox bestätigt in ihrem Buch
Watching the English
, dass Großbritannien heftiger auf Bräuche und historische Verhaltensregeln pocht als die europäischen Nachbarn.
    «Du
musst
in Ascot Hut tragen.»
    «Du
musst
in Wimbledon Erdbeeren essen.»
    «Du
musst
beim englischen Tee zuerst die Milch, dann den Tee in die Tasse gießen» (sagen die einen).
    «Du
musst
beim englischen Tee zuerst den Tee, dann die Milch in die Tasse gießen» (sagen die anderen).
    «Du darfst Tee nicht aus französischen Kaffeeschalen trinken!», sagt Steve.
    Zudem haben Engländer noch einen ausgeprägten Sinn für ihre Klassenzugehörigkeit (die
Daily Mail
etwa sieht sich als furiose Anwältin der Mittelklasse). Jede Klasse hat ihre eigenen Normen; gemeinsam ist ihnen das Gefühl dafür, ihre Sitten und Traditionen beizubehalten.
    Ich lernte die Wasserhahn-Londoner das erste Mal an einer Ecke in Barnet etwas näher kennen. Dort steht ein
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