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Unser empathisches Gehirn: Warum wir verstehen, was andere fühlen (German Edition)

Unser empathisches Gehirn: Warum wir verstehen, was andere fühlen (German Edition)

Titel: Unser empathisches Gehirn: Warum wir verstehen, was andere fühlen (German Edition)
Autoren: Christian Keysers
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Tangotänzer an Erfahrung gewinnen, fordert Ihr Lehrer Sie vielleicht auf, sehr spezifische Ganchos in einer besonderen Sequenz auszuführen. Sobald Sie motorische Programme für einzelne Gancho-Arten erworben haben, verfügen Sie über verschiedene streng kongruente Spiegelneuronen für jede dieser Gancho-Unterarten – Neuronen, die lediglich und selektiv auf den Anblick und die Ausführung eines bestimmten Ganchos reagieren, was Sie befähigt, eine solche spezifische Sequenz nachzuahmen.
    Mit der simultanen mehrschichtigen Übersetzung, die durch die Kombination von allgemein und streng kongruenten Spiegelneuronen zustande kommt, ist der Affe mit einer sehr flexiblen Übersetzung ausgestattet, die dem Zoomobjektiv einer Kamera ähnelt: Er kann die Einzelheiten der Handlungen anderer Individuen gewissermaßen heranzoomen, wenn sie in seinem motorischen Vokabular vorhanden sind, oder wegzoomen, um einen allgemeineren Eindruck des Geschehens zu bekommen.
    Was geschieht, wenn wir eine Handlung hören?
    Bislang ging es um den Anblick handelnder Individuen. Doch häufig können wir das Handeln anderer verstehen, indem wir ihnen einfach zuhören. In den achtziger Jahren lief eine berühmte Radiowerbung von Coca-Cola mit dem Geräusch einer Flasche, die zischend geöffnet wurde, einem Kronenkorken, der auf den Tisch fiel und dort zitternd zur Ruhe kam, mit Flüssigkeit, die sich in ein Glas ergoss, dem »Gluck-Gluck« gierigen Schluckens und schließlich dem befriedigten »Ah!« eines erfrischten Menschen. Noch heute, zwanzig Jahre später, läuft mir bei der Erinnerung an diese Laute das Wasser im Mund zusammen. Warum wirken sich die Geräusche, die wir von den Handlungen anderer vernehmen, so unwiderstehlich auf unseren Körper aus?
    Wir entdeckten die Antwort kurz nach meiner Ankunft in Parma. Vittorio, Alessandra und Evelyne hatten die Aktivität von Spiegelneuronen aufgezeichnet, die nicht nur zu reagieren schienen, wenn der Affe bestimmte Handlungen sah und ausführte, sondern auch, wenn er die Geräusche dieser Handlungen hörte. Wir wollten wissen, wie gut solche Neuronen zwischen verschiedenen Handlungen unterscheiden können und inwieweit sich ihre visuellen und auditiven Reaktionen entsprechen. Wenn solche Neuronen uns helfen sollen, die Handlungen anderer zu verstehen, müssen sie natürlich Ihr Zerreißen eines Papierbogens in mein Zerreißen und Ihr Trinken eines Glas Wassers in mein Trinken übersetzen. Denn es soll ja nicht sein, dass Ihr Zerreißen mein Trinken oder mein Zerreißen Ihr Trinken auslöst – wie könnten Sie sonst wissen, ob ich trinke oder zerreiße?
    Zunächst zeichneten wir die Aktivität eines Neurons auf, das reagierte, wenn der Affe einen Bogen Papier zerriss. Dann weichte ich das Papier in Wasser ein, sodass das Zerreißen unhörbar wurde, bedeckte dem Affen die Augen und gab ihm das Papier, das er rasch zerriss. Trotz der Unfähigkeit des Affen, zu sehen oder zu hören, feuerte dieselbe Zelle, was darauf schließen ließ, dass es sich wirklich um ein Motorneuron für Papierzerreißen handelte. Dieses Neuron feuerte nicht, wenn der Affe eine Erdnuss aufbrach, und stellte damit seine Selektivität unter Beweis. Um nun die Reaktion des Neurons auf Handlungen zu testen, die der Affe lediglich hören konnte, stellten wir uns hinter ihn und zerrissen geräuschvoll einen trockenen Papierbogen. Das Neuron feuerte, als hätte der Affe gerade selbst einen Papierbogen zerrissen. Hinter dem Affen und für ihn nicht sichtbar brachen wir die Schale einer Erdnuss auf, und nichts geschah; das legte den Gedanken nahe, dass die Zelle selektiv war: Sie reagierte auf Papierzerreißen und nicht auf Erdnussaufbrechen. Zum Abschluss der Testreihe weichten wir wieder Papier ein, stellten uns vor den Affen, zerrissen lautlos den nassen Papierbogen. Abermals feuerte das Neuron. Doch als wir eine Erdnuss aufbrachen – wir hatten die Schale vorher eingedrückt, damit die Bewegung kein Geräusch hervorrief –, zeigte das Neuron keine Aktivität.
    Aus diesem Ergebnis folgt, dass Spiegelneuronen Anblick, Geräusch und Ausführung einer Handlung zu kombinieren scheinen. Sie sind »dreisprachig«. Die wichtigste Erkenntnis aber war, dass Spiegelneuronen in allen drei Sinnesmodalitäten selektiv sind. Nachdem wir viele ähnliche Neuronen gefunden hatten, begriff ich, dass Radiowerbungen wie der Coca-Cola-Spot in uns das Verlangen nach bestimmten Produkten wecken, weil auditive Spiegelneuronen selektiv die
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