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Unschuldslamm

Unschuldslamm

Titel: Unschuldslamm
Autoren: Judith Arendt
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gibt’s?«
    »Ja, hör mal, ich ruf an wegen dem Spartarif. Papi will morgen buchen, und da muss ich natürlich wissen, ob du jetzt feierst oder nicht.«
    Das war typisch für ihre Mutter. Sie hielt es nie für nötig, ihre Gesprächspartner darüber aufzuklären, was sie von ihnen wollte und um was genau es ging. Sie hatte sich vorher bereits ihre Gedanken gemacht und stellte die sich daraus ergebenden Fragen, die sie gefälligst sofort und ohne Umschweife beantwortet haben wollte. Ruths Mutter war Finanzbuchhalterin bei der Stadt gewesen, und da zählten nur Fakten, Fakten, Fakten. Aber Ruth und auch ihr Vater Helmut hatten mit den Jahren gelernt, auch das Unausgesprochene mitzudenken, und so reimte Ruth sich zusammen, dass ihre Mutter wissen wollte, ob sie ihren fünfzigsten Geburtstag feiern würde. Dieser war im Februar, in drei Monaten also, der Vorverkauf für die Bahnfahrkarten begann. Ihr Vater würde, im Falle einer Feier, versuchen, Superspartickets über das Online-Portal der Bahn zu buchen. Seit er in Rente war, hatte er sich, zunächst widerwillig, aber nun zunehmend begeistert, mit dem Internet beschäftigt.
    »Mama, ich weiß es noch nicht.« Ruth stieg abrupt auf die Bremse, weil sie die rote Ampel erst im letzten Moment gesehen hatte. Sofort warf sie einen prüfenden Blick in den Rückspiegel, aber überraschenderweise hatte auch ihr Hintermann rechtzeitig auf ihr überstürztes Bremsmanöver reagiert. »Eher nicht. Nein. Mir ist nicht so nach Feiern.«
    Ihre Mutter stöhnte.
    »Kindchen, das ist aber wirklich ungünstig.« Ruths Mutter war ungehalten. »Wenn du erst wieder so kurzfristig Bescheid sagst, können wir vielleicht nicht dabei sein«, fügte sie pampig hinzu.
    Ruth verdrehte die Augen. Das war auf die Geburt von Lukas gemünzt, der zwei Wochen vor dem Termin geboren worden war und damit den Terminplan ihrer Eltern gehörig durcheinandergebracht hatte.
    »Ich mach mir Gedanken und sag euch Ende der Woche, ob ich feiere oder nicht. Dann gibt’s die Sparpreise immer noch«, sagte sie versöhnlich.
    »Na, wenn du dich da mal nicht täuschst.« Ihre Mutter war mit der Antwort äußerst unzufrieden. Vermutlich hatten die beiden die Reise nach Berlin schon fest geplant.
    »Dann kommt doch auf alle Fälle. Auch ohne Party«, bot Ruth an und wich geschickt einem Betrunkenen aus, der sich nicht mehr gerade auf dem Bürgersteig halten konnte. »Dann könnt ihr auch mal Lukas’ neue Wohnung sehen.«
    »Das machen wir«, trompetete ihre Mutter besänftigt durch den Hörer. Offensichtlich hatte sie auf genau diesen Vorschlag von Ruth spekuliert. Ruth war gewiss, dass ihr Vater bereits alle Zugverbindungen gecheckt hatte und sie spätestens morgen seiner Tochter per Mail zukommen ließ.
    »Also gut. Ich muss auflegen, ich sitz im Auto.«
    »Um Himmels willen!«, gab ihre Mutter zurück und hatte aufgelegt, noch bevor sich Ruth verabschieden konnte.
    Ruth schmiss ihr Handy auf den Beifahrersitz und bremste direkt vor ihrem Laden. In der Einfahrt parkte wieder einer so, dass Ruth kaum mit ihrem großen Kastenwagen durchkam, aber sie beschloss, das Manöver zu wagen. Tatsächlich schaffte sie es, sich ohne Lackschaden zwischen den Stoßstangen hindurchzuschlängeln, und als sie neben den Mülltonnen im Hof parkte, hatte Jamila bereits die hintere Tür zur Küche geöffnet und begrüßte ihre Chefin lachend.
    »Bad hair day?«, fragte sie und zeigte amüsiert auf Ruths wild abstehende Locken.
    »Frag nicht«, gab Ruth zurück und öffnete die Heckklappen ihres Autos, damit sie gemeinsam die Lebensmittelkisten in die Küche bringen konnten. Aber Jamila musste nicht fragen. Mit wissendem Blick musterte sie die Sneakers, die weite Schlabberhose und den Kapuzenpulli und wusste genau, in welcher seelischen Verfassung Ruth heute das Haus verlassen haben musste. Denn Jamila war nicht nur Ruths Angestellte und im »La Paysanne« die gute Fee für alles, sie war seit ihrer Anstellung vor fünf Jahren auch Ruths Ansprechpartnerin für Probleme aller Art.
    Obwohl die Frauen rein äußerlich unterschiedlicher nicht sein konnten – Jamila, Marokkanerin, war fast zwanzig Jahre jünger, groß, schlank, mit rabenschwarzen langen Haaren und einer makellosen dunklen Samthaut gesegnet, seit zwei Jahren Mutter einer reizenden kleinen Tochter und mit einem Algerier verheiratet –, hatte Ruth von Anfang an das Gefühl gehabt, einer Seelenverwandten begegnet zu sein. Die beiden Frauen arbeiteten Tag für Tag eng zusammen
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