Unschuldslamm
Preis entgehen.
»Ich glaube, es ist ganz gut für dich, hier mal rauszukommen«, hatte Jamila unbeirrt das Thema fortgesetzt.
»Pfff. Da kann ich mir Besseres vorstellen. Ein Wellness-Wochenende im Spreewald zum Beispiel.«
»Das meine ich nicht.« Jamila hatte Ruth an der Hand gefasst, damit sie sich ihr nicht entziehen konnte.
»Ich meine, es ist gut, wenn man sich mal mit etwas anderem als der eigenen Nabelschau beschäftigt.«
Ruth wollte sofort beleidigt zurückschießen, denn sie fand, dass sie sich andauernd für andere aufopferte, für das Bistro, ihre Kinder, die Angestellten und den Ex-Mann, aber Jamila ließ sie nicht zu Wort kommen.
»Du machst seit Jahren keine Pause, Ruth. Du kommst jeden Morgen in den Laden, gehst erst am Abend hier raus, kümmerst dich dann um deine Familie und bist am nächsten Tag wieder hier. Sogar, wenn der Laden geschlossen ist. Dein ganzes Leben kreist darum.«
Die Marokkanerin sah Ruth eindringlich an, und diese konnte nicht anders, als ihr recht zu geben. Es stimmte schon, sie musste mal raus. Aber das hieß in ihren Augen eigentlich nicht, um die Ecke ins Landgericht zu gehen, sondern mal Urlaub zu machen.
»Es ist eine Chance, sich mit anderen Leben auseinanderzusetzen. Sich mit etwas zu beschäftigen, das nicht mit dem ›Paysanne‹ zu tun hat.«
Ruth goss sich noch ein kleines Schlückchen Wein ein und starrte in ihr Glas, nur um Jamila nicht ansehen zu müssen. Ihre Freundin war klug. Und sie hatte recht. Und das stank Ruth gewaltig.
»Ich denk drüber nach«, hatte sie gesagt. Jamila hatte genickt und versucht, ihr Lächeln zu verbergen.
Natürlich hatte Ruth nicht darüber nachgedacht. Aber sie hatte auch keinen Widerspruch eingelegt. Sie hatte den Bescheid einfach unter den Stapeln auf ihrem Schreibtisch verschwinden lassen und geflissentlich ignoriert. Schließlich war der Dezember angebrochen, der Monat der Weihnachtsfeiern und der Vorbereitungen. Sie und Jamila machten für Stammkunden in Ausnahmefällen, und wenn es sich wirklich rechnete, ab und zu auch Catering, und vor Weihnachten häuften sich diese Ausnahmefälle. Zusätzlich war Ruth mit den Geschenken für ihre Familie, Streit mit Johannes wegen der immer noch nicht eingegangenen Unterhaltszahlungen und einer verschleppten Erkältung beschäftigt. Erst als sie am Neujahrstag an ihrem Schreibtisch saß und versuchte, Ordnung in ihr ganz und gar nicht kreatives Chaos zu bringen, fiel ihr der Brief wieder in die Hände. Sie hatte sich am neunten Januar in Raum 500 der großen Strafkammer am Kriminalgericht Berlin einzufinden. Um zehn Uhr begann der Prozess, und sie sollte eine Viertelstunde vorher im Beratungszimmer sein. Ruth seufzte, fügte sich in ihr Schicksal und regelte mit Jamila alles für den Tag ihrer Abwesenheit.
Nun stand sie hier und genoss den Morgen, obwohl dieser alles andere als lieblich war. Über die Jahreswende war Berlin im Schnee erstickt, und die Berliner Stadtreinigung hatte es, wie immer, wenn es mal überraschend Schnee im Winter gab, nicht geschafft, die Schneemassen zu beseitigen, zu streuen und zu salzen. So lagen riesige Haufen auf den Straßen und Bürgersteigen und erinnerten an die ausschweifende Silvesternacht und die Katerstimmung danach. Raketenreste, schwarz verbrannte Chinaböller, matschige und farblose Luftschlangen, leere »Rotkäppchen«-Sekt-Flaschen, »Kleine Feiglinge«, Reste von Erbrochenem, und immer wieder verunzierte Hundekot in allen Schattierungen die ehemals weißen Haufen. Am vergangenen Wochenende hatte es dann einen Temperatursprung gegeben, und all der Schnee hatte sich in einen glasig braunen Matsch verwandelt, der jeden noch so gut imprägnierten Schuh sofort bis auf die Sohle durchweichte. Ruth hatte ihre hochhackigen Stiefel angezogen, die sich nun bereits vollgesogen hatten, sowie ihr graues Kostüm und eine weiße Bluse, weil sie um »angemessene Kleidung« gebeten worden war. Annika hatte die Sachen aus Ruths Kleiderschrank hervorgezerrt, und Ruth hatte überrascht festgestellt, dass ihr Rock und Oberteil noch passten wie vor fünf Jahren. Damals hatte sie das Kostüm extra für den Termin bei der Bank angeschafft, als sie wegen des Kredits für das »La Paysanne« vorstellig geworden war. Es hatte ihr heute Morgen Spaß gemacht, sich businessmäßig zu kleiden, und sie hatte das Outfit noch mit Make-up und einem neuen Lippenstift getoppt. »Geht doch, Mama«, hatte Annika kommentiert, und Ruth hatte überlegt, ob sie das als
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