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Unschuldslamm

Unschuldslamm

Titel: Unschuldslamm
Autoren: Judith Arendt
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öffnete hinter der Richterempore eine Tür, die in ein kleines gesichtsloses Zimmer führte, in dem sich bereits vier Menschen befanden.
    »Wir sind dann vollzählig«, teilte ihre Begleitung einer Mittfünfzigerin in Richterrobe mit. Außerdem waren noch zwei weitere Menschen in Robe anwesend, ein sehr junger Mann, höchstens Mitte dreißig, sowie ein älterer, weißhaariger, der in eine Akte vertieft war und es nicht für nötig hielt, bei Ruths Eintreffen aufzublicken.
    »Veronika Karst, Vorsitzende Richterin«, stellte sich die Mittfünfzigerin freundlich vor. Sie hatte einen schulterlangen Bob, war sorgfältig und dezent geschminkt und strahlte die Art freundlicher Kompetenz aus, in deren Gegenwart Ruth sich stets sofort wohl fühlte.
    »Dann würde ich Ihnen beiden gerne den Fall skizzieren«, fuhr die Richterin fort und blickte dabei zu einem weiteren Mann, der neben Ruth stand und diese skeptisch musterte. Er hatte bereits bei ihrem Eintritt in den Raum einen demonstrativen Blick auf seine Armbanduhr geworfen und sah sie nun missbilligend an.
    »Ernst Hochtobel«, stellte er sich vor und straffte die Schultern, während er Ruth seine Hand hinstreckte, vermutlich, um sich etwas mehr Größe und Statur zu verleihen. »Ist meine zweite Amtszeit als Schöffe«, fügte er nicht ohne Stolz hinzu. »Bin ein alter Hase. Sozusagen.« Dabei blickte er beifallheischend zu den drei Richtern, die ihn aber keines Blickes würdigten.
    Richterin Karst lächelte Ruth aufmunternd zu. »Ist das Ihr erster Tag als Schöffin?«, erkundigte sie sich.
    Ruth nickte.
    »Nun, dann ist es bestimmt zweckmäßig, wenn Herr Hochtobel Sie nach dem heutigen Verhandlungstag ein bisschen in das Schöffenamt einweist«, fuhr sie fort. Hochtobel nickte wichtig, während Ruth dachte, dass sie bestimmt Besseres zu tun hätte, als den Tag mit diesem aufgeblasenen Rentnergockel in einer traurigen Justizkantine ausklingen zu lassen.
    »Es sei denn, Sie haben sich schon damit vertraut gemacht?« Die Richterin sah Ruth mit prüfend-freundlichem Blick an, und Ruth gelang es nicht, dieser staatlichen Autorität ins Gesicht zu flunkern, also schüttelte sie nur wortlos den Kopf und murmelte verlegen etwas davon, dass sie keine Zeit gehabt hatte.
    »Schade«, kommentierte die Richterin ihre Ausflüchte und schlug dann die Akten auf.
    »Wir verhandeln heute den Fall der ermordeten Kurdin Derya Demizgül …«
    Mit einem Ruck setzte Ruth sich gerade hin, was der Richterin nicht entging.
    »Sie wissen, um welchen Fall es sich handelt?«, erkundigte sie sich.
    »Ja … ich … das Mädchen war auf der Schule meiner Tochter.«
    Nun erwachte auch der weißhaarige Richter und hob interessiert den Kopf. Der junge Mann trat einen Schritt näher.
    »Sie kannten das Opfer?«
    Alle Blicke waren nun auf Ruth gerichtet, die sich überaus unwohl fühlte.
    »Nein! Nicht direkt jedenfalls. Aber trotzdem«, unsicher nestelte sie an ihrer Kostümjacke herum. »Sie ist zwar nicht in der gleichen Jahrgangsstufe wie meine Tochter. Und ich kenne sie gar nicht, auch nicht ihre Familie. Aber ich habe das natürlich mitbekommen. Man ist ja irgendwie näher dran, wenn es sich um eine Mitschülerin handelt …«, brachte sie um Entschuldigung heischend hervor.
    »Dann ist ja gut«, sagte Richterin Karst knapp und nickte dem jungen Richter zu.
    Dieser wandte sich nun an Ruth und klärte sie darüber auf, dass, hätte sie das Opfer oder die Familie des Opfers gekannt, die Verhandlung wegen Befangenheit hätte verschoben werden müssen und sie von diesem Strafprozess abgezogen werden müsste.
    Ruth schämte sich, dass sie sich nicht besser auf diesen Termin vorbereitet hatte. Natürlich hätte sie wissen müssen, zu welcher Verhandlung sie geladen war. Und auch, was ihre Aufgaben als Schöffin waren. Stattdessen war sie bockig und naiv hierhergestolpert und musste sich nun der geballten Kompetenz dreier Richter aussetzen. Allerdings hatte sie erwartet, dass man sich ihrer annehmen würde, dass jemand sie in Empfang nehmen und sie über ihre Rechte, Pflichten und Aufgaben informieren würde. Aber so, wie sich die Dinge hier darstellten, war das nicht der Fall. Ruth spürte, wie eine Hitzewelle sie überrollte. Unter ihren Achseln breitete sich Feuchtigkeit aus, und sie öffnete schnell die Kostümjacke, um zu verhindern, dass sie gleich ihre Bluse durchschwitzte. Sie fühlte sich äußerst unbehaglich. Sie hatte keinen Schimmer davon, was sie erwartete. Wo sollte sie Platz nehmen?
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