Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Unschuldslamm

Unschuldslamm

Titel: Unschuldslamm
Autoren: Judith Arendt
Vom Netzwerk:
Klassenfahrt? Wann soll das denn sein? Ich weiß von nichts.«
    Anstelle einer Antwort stöhnte Annika nur und rollte mit den Augen. Dann beugte sie sich wieder über ihre Zehennägel.
    Ruth ärgerte sich über die Ignoranz ihrer Tochter, beschloss aber, den Mund zu halten, denn sie fühlte sich auch schuldig. Sie besuchte aus Prinzip seit einigen Jahren keine Elternabende mehr. Zu oft hatte sie sich aufregen müssen – wahlweise über die Lehrer oder die anderen Eltern. Stattdessen hatte sie ihren Kindern eingebläut, dass diese absolute Auskunftspflicht hatten über alles, was die Schule betraf. Ruth hatte geglaubt, Lukas und Annika auf diesem Weg zu mehr Selbstverantwortung zu erziehen, aber dieses gutgemeinte pädagogische Konzept war mit Pauken und Trompeten gescheitert, wie die Sache mit der Klassenfahrt erneut bewies.
    »Du hast mir keinen Zettel hingelegt. Woher soll ich das denn wissen?«, setzte sie ärgerlich nach.
    »Klar hab ich. Schon gleich nach den Sommerferien.«
    ›Aha‹, rechnete Ruth. ›Vor über drei Monaten also.‹
    Annika schob bockig die Unterlippe vor. »Wir fahren doch nach Florenz. Morgen muss das Geld auf dem Konto sein.«
    Ruth nickte resigniert, schenkte sich einen weiteren Becher Tee ein und tippte dann eine Notiz in ihr Handy, dass sie später eine Online-Überweisung vornehmen musste und außerdem das Sekretariat des Gymnasiums anrufen und um einen Aufschub bitten. Dann überlegte sie es sich anders. Sie würde Johannes anrufen und ihm den Schwarzen Peter zuschustern. Der muss auch mal etwas tun, fand Ruth, schließlich wartete sie schon wieder auf die Unterhaltszahlungen der letzten drei Monate. Die Kosten der Klassenfahrt konnte er gleich voll übernehmen, als Zinsen gewissermaßen.
    »Und überlass das bloß nicht Papa«, wies ihre Tochter sie an, »der zahlt das Geld erst ein, wenn ich schon Abi hab.«
    Ruth seufzte, löschte die Notiz und schmiss das Handy in ihre Tasche. Sie nahm einen letzten Schluck Tee und schüttete den Rest in ihren Thermobecher. Sie war schon zur Hälfte aus der Küche, als Annika sie aufhielt.
    »Mama?!«
    Ruth drehte sich auf der Schwelle noch einmal um.
    Ihre Tochter sprang vom Stuhl, wackelte auf den Fersen auf ihre Mutter zu und breitete die Arme aus.
    »Ich hab dich lieb«, sagte sie sanft und schlang ihre Arme um Ruth. Diese erwiderte die liebevolle Geste und gab Annika einen dicken Kuss auf die Backe.
    »Ich dich auch. Viel Spaß in der Schule.«
    Annika löste sich aus der Umarmung.
    »Kotz. Ich schreib heut Mathe.«
    Und schon sah Ruth ihre Tochter von hinten zurück zum Stuhl wackeln. Ruth grinste, schlüpfte in ihre Sneakers, zog den langen Wollmantel von der Garderobe und verschwand ins Treppenhaus.
    Obwohl es von der Wohnung der Holländers nur ein Katzensprung zum Großmarkt war, brauchte Ruth mit ihrem Fiat Doblo fast eine halbe Stunde, bis sie endlich bei den großen Lagerhallen parken konnte. Auf der Beusselbrücke war seit mehreren Monaten eine Baustelle, und da der Berliner Autofahrer das Prinzip des Einfädelns zwar verstand, aber nicht akzeptierte, dauerte es eine halbe Ewigkeit, bis sie das Nadelöhr erreicht und schließlich passiert hatte. Dabei hatte sie eine ungute Auseinandersetzung mit einem Fahrradkurier, der sich von links hinten an ihrem Kastenwagen vorbeiquetschte, als Ruth sich endlich eine Lücke zum Spurwechseln erkämpft hatte. Sie trat erschrocken auf die Bremse, als der Radler unvermutet in ihrem Blickwinkel auftauchte, aber statt einer Entschuldigung trat ihr dieser, ein nicht mehr ganz junger Mann, der sich in eine grelle Plastikpelle gequetscht hatte, die seine rachitische Brust unvorteilhaft zur Geltung brachte, im Vorbeifahren mit dem Schuh auf den linken Kotflügel und zeigte ihr den erhobenen Mittelfinger.
    Der restliche Tag verlief zu Ruths großer Erleichterung ohne weitere Ärgernisse und Überraschungen. Fernando, ein Portugiese, bei dem Ruth seit ein paar Jahren den Fisch für ihr Restaurant einkaufte, überraschte sie damit, dass er ihr einige besonders schöne Rotbarben zurückgelegt hatte, obwohl Ruth sich nicht daran erinnern konnte, von ihrem Vorhaben erzählt zu haben. Aber Fernando war stets aufmerksam. Obwohl einige Jahre jünger und glücklich verheiratet, flirtete er auf schmeichelhafte und niemals aufdringliche Weise mit Ruth. Er gab ihr immer wieder das Gefühl, eine besondere Kundin zu sein, obwohl sie nur kleine Mengen abnahm. Natürlich war Ruth vollkommen klar, dass dies Teil des
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher