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Unschuldslamm

Unschuldslamm

Titel: Unschuldslamm
Autoren: Judith Arendt
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sich dabei herum und stieß sich zu allem Überfluss beim Hochkommen das Steißbein am Wasserhahn.
    »Verdammte Hacke!«, brüllte Ruth und schlug vor Wut und Schmerz an die zweigeteilte Plastikduschtür, die sich daraufhin sofort öffnete. Das Wasser aus der Brause ergoss sich sogleich auf den flauschigen Vorleger, und Ruth drehte überraschend geistesgegenwärtig den Hahn zu. Der Tag konnte nicht mehr gelingen, ob mit gewaschenen Haaren oder ohne, und so riss sie das große Handtuch von der Stange und kauerte sich auf dem kleinen trockenen Teil des Duschvorlegers zusammen. Sie hüllte sich zur Gänze in das Handtuch und atmete in die dunkle Höhle, die sich zwischen ihren Knien, den Brüsten und dem Frottee über dem Kopf gebildet hatte.
    Ichwillwiederinsbettabersofortwarummussichnachdraußenichrufimladenanundsageichbinkrankverdammterscheißtagwarumbinichüberhauptaufgestanden.
    »Annika!!!«, brüllte sie voller Inbrunst aus der Frotteehöhle hervor, um sich an der Verursacherin ihres Dilemmas abzuarbeiten. Ruth erwartete nicht ernsthaft eine Reaktion ihrer sechzehnjährigen Tochter, und es kam auch keine. Seufzend ließ sie das Handtuch zu Boden gleiten, wodurch sich ihre Poren sofort vor Kälte zusammenzogen und großflächig Gänsehaut entstand. Ruth beschloss, das zu ignorieren, und begann, sich mit der unangenehm kalten Bodylotion – die zu ihrem großen Erstaunen von ihrer Tochter noch nicht aufgebraucht war – einzucremen. Danach schlüpfte sie in ein gemütliches Kapuzensweatshirt und die weite schwarze Hose mit dem Gummizug. An Tagen wie diesen ertrug Ruth nur Gummizug. Eine Jeans mit Gürtel hätte ihre Pein heute noch vergrößert. Sie musste Klamotten tragen, in denen sie sich fühlte, als läge sie noch im Bett, nur dann würde sie die kommenden Stunden überstehen. Das hieß auch: keine Absätze! Während sie sich die Zähne putzte und einen Blick in den Spiegel auf ihre nassen, aber ungewaschenen Locken vermied, sah sie durch das schmale Altbaufenster nach draußen in den trüben Berliner Winter. Besser gesagt, sie versuchte, einen Blick durch das Fenster zu werfen. Denn durch das einfache Glas und den alten verzogenen Holzrahmen kam die bittere Kälte von draußen ins warme Bad, und am Fensterglas hatte sich Kondenswasser gebildet. Ruth wusste, wie es jetzt draußen roch.
    Obwohl es weitaus weniger Kohleheizungen gab als damals vor dreißig Jahren, als sie zum Studium nach Berlin gezogen war, hing noch immer ein leichter Geruch von verbrannter Kohle in der Stadt. Vermischt mit den Abgasen der nahen Turmstraße. Am stärksten hatten die ersten Winter nach Maueröffnung gerochen, als sich die Ausdünstungen der unzähligen Berliner Altbau-Ofenheizungen mit dem Gestank aus den Auspuffen der Zweitaktmotoren der Trabbis und Wartburgs vermischt hatten. In den tiefen Straßenschluchten stand die stickige Luft hellgrau und undurchdringlich, weil sie von der Feuchtigkeit niedergedrückt wurde und bis zum Abend nicht abzog. Auch heute hing dicke Suppe in ihrer Straße, und Ruth konnte die Hausfassade auf der anderen Seite des Hinterhofes nur schwerlich erkennen.
    Sie bewohnte die Moabiter Vierzimmer-Altbauwohnung im dritten Stock seit zwanzig Jahren. Sie und Johannes hatten damals eine billige, aber geräumige Wohnung gesucht und waren auf dieses heruntergekommene Juwel gestoßen. Sie war mit Lukas schwanger gewesen. Vier Jahre später kam Annika zur Welt, und die Hundertquadratmeterwohnung, die ihr anfangs wie ein Palast vorgekommen war, schrumpfte zusehends. Kinderklamotten, Schlitten, Bobbycars, Kuscheltiere, später Eishockeyschläger, Skateboards und zwei Katzen bevölkerten nun jede Ecke und jeden Schrank. In den ersten Jahren, als die Kinder klein waren, hatte Johannes noch den Ehrgeiz gehabt, kreative Lösungen für die Platzmisere auszutüfteln. Hatte Hängeböden und ein Hochbett und Wandschränke gebaut. Bis es ihm zu viel geworden war. Dann hatte er das Schlafzimmer okkupiert, die Bücherregale waren an allen Wänden bis zur Decke gewuchert, eines Tages stand ein Schreibtisch darin, und Johannes hatte nachts gearbeitet, so dass Ruth zum Schlafen auf das Wohnzimmersofa zog. Vorübergehend, wie sie zunächst gehofft hatte, dann aber langfristig. Irgendwann war Johannes ausgezogen.
    Und jetzt, dachte Ruth ein bisschen wehmütig, während sie den Mund ausspülte und sich anschließend das Gesicht eincremte, jetzt erobere ich mir den Palast nach und nach zurück. Denn ihr Sohn Lukas war zu Beginn
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