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Unheilvolle Minuten (German Edition)

Unheilvolle Minuten (German Edition)

Titel: Unheilvolle Minuten (German Edition)
Autoren: Robert Cormier
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für die Tapete sparen können, wenn er gewusst hätte, wie verrückt sie nach Postern war. Das Zimmer war ihr Revier, ihr Refugium, ihr Versteck. Hier konnte sie die Tür zumachen und die Welt ausschließen, die Vier minus in Mathe – die schlechteste Note ihres Lebens –, die Pickel, die überall in ihrem Gesicht sprossen, den quälenden Kummer, dass Timmy Kearns sie nach der ersten Verabredung völlig ignorierte. Ihr Rückzugsort, zu dem nur Patti und Leslie Zutritt hatten, während für alle anderen der Grundsatzbefehl galt, dass sie draußen bleiben mussten.
    Im ersten Augenblick der Entdeckung, als sie an der Tür stand und die zerfetzte Matratze sah, ihre gehüteten Tiere kreuz und quer auf dem Boden, die in Fetzen herabhängenden Poster, an der Wand die gelben Streifen, die sie nicht gleich als Urin erkannte, die Lache mit Erbrochenem auf dem Boden – da war ihr schwach geworden, wackelig, und sie hatte sich gefühlt, als wäre sie selbst überfallen worden. Sie wollte aus Burnside fliehen, weg von hier, zurück nach Monument, wo es sicher und normal war, todlangweilig, aber friedlich, wo ihr Vater mit dem Polizeichef Golf spielte und jeder jeden kannte, sogar die Namen der Hunde und Katzen. Wenige Minuten später hatte man Karen im Keller gefunden, und die Wut, die sie in ihrem Zimmer empfunden hatte, verblasste vor dem Entsetzlichen, das Karen widerfahren war.
    »Verdammt, verdammt«, sagte sie jetzt vor sich hin und schaukelte heftig vor und zurück, erfüllt von Zorn und Schuld und – was? Unvermittelt hörte sie auf zu schaukeln und blieb still in ihrem Stuhl sitzen. An der Hecke, hinter dem Kirschbaum, hatte sie eine Bewegung wahrgenommen. Irgendetwas war dort, verschwommene Umrisse, nicht ganz erfasst und schon wieder weg. Ihr schauderte. Sie schlang die Arme um sich und fragte sich, ob die Täter in der Nachbarschaft herumlungerten, ob sie zum Schauplatz des Verbrechens zurückgekehrt waren, wie man es von Verbrechern zu sagen pflegte.
    Als Buddy Walker im Zimmer des Mädchens den Spiegel zerschlug – wozu er die Freiheitsstatue benutzte –, traf ihn ein Glassplitter an der Wange. Im gezackten, von Sprüngen durchzogenen Spiegelbild sah er Blut hervorquellen und über sein Gesicht laufen. Betrunken starrte er es an und ließ die Statue zu Boden fallen.
    Eigentlich wusste er gar nicht, ob er betrunken war oder nicht. Ihm war wirr im Kopf, ja, und schwindlig, und es kam ihm so vor, als schwebte er, als berührten seine Füße kaum noch den Boden. Das Licht schmerzte in den Augen, fügte seinen Augäpfeln Prellungen zu, aber im Übrigen war ihm angenehm gleichgültig zu Mute. Er ließ sich gehen, mitgerissen von einem herrlichen Gefühl, einfach nur dahinzutreiben. Und er dachte: Zur Hölle mit allem und jedem. Und besonders mit allen zu Hause.
    Trotz der Blutung war der Schnitt nur geringfügig. Inmitten des ganzen Gemetzels, des Kreischens und gellenden Gelächters und der Geräusche der Zerstörung, die aus dem unteren Stockwerk drangen, bahnte er sich vorsichtig einen Weg zum Badezimmer und fand dort im Schränkchen über dem Waschbecken eine Packung mit Pflaster. Er nahm zwei heraus, steckte eins zum späteren Gebrauch in die Brusttasche seines Hemds, putzte sich mit einem Handtuch das Blut ab und dann klebte er sich in aller Ruhe das andere Pflaster auf die Backe. Seine Hand war ruhig, obwohl ihn plötzlicher Schwindel überkam. Als er sich wieder ins Zimmer des Mädchens schleppte, empfand er den Schwindel sogar als ganz angenehm. Er lehnte sich an den Türrahmen und begutachtete den Schaden; die zerfetzten Poster, die Sammlung kleiner Tiere, die verstreut auf dem Teppich lagen, die zerrissenen Decken und Laken, die gelben Pissestreifen an der Wand.
    Plötzlich verschwand seine Hochstimmung. Stattdessen überkam ihn Verzweiflung, Leere. Er fühlte sich von den anderen isoliert, abgeschnitten von dem Triumphgeheul und dem Knallen und Krachen im Erdgschoss. Mir wird schlecht . Fast wie in Zeitlupe ließ er sich auf die Knie nieder und die Kotze stieg ihm die Kehle hoch und floss aus seinem Mund auf den weichen, blauen Teppich. Stechender, übler Gestank schlug ihm entgegen, stieg ihm in die Nase. Während er im Türrahmen kniete, würgte er einmal, zweimal. Würgte wieder und wieder, bis nichts mehr hochkam. Sein Magen tat weh, seine Brust tat weh, sein Hals tat weh.
    Ihm fiel auf, dass unten im Erdgeschoss eine plötzliche Stille eingetreten war, so, als hörten Harry und seine
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