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Unglücklich sein (German Edition)

Unglücklich sein (German Edition)

Titel: Unglücklich sein (German Edition)
Autoren: Wilhelm Schmid
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schwerer Krankheit, sich um jeden Preis einzureden, dass alles wieder gut wird? In nachhaltiger Erinnerung bleibt mir ein Mann, der mit 38 Jahren an Lungenkrebs starb. Bis zum letzten Atemzug lehnte er es ab, seine Krankheit für tödlich zu halten, und glaubte fest daran, sie zu überwinden. Er nahm von niemandem Abschied und verfasste kein Testament, mit unguten Folgen für die Hinterbliebenen.
    Dass Dinge und Verhältnisse davon abhängen können, was Menschen darüber denken, war ursprünglich eine Entdeckung antiker Philosophen. Schon Epiktet wusste, dass die Deutung eines Geschehens in der Macht des Menschen steht, der missliche Dinge so interpretieren kann, dass sie lebbar werden, denn nicht das, was uns zustößt, ist bedrückend, sondern unsere Meinung darüber. Aber nicht alles kann beliebig gedeutet werden. Gläser sind nicht immer nur halb voll oder halb leer, sondern gelegentlich auch ganz leer. Nur die frühzeitige Wahrnehmung erlaubt eine rechtzeitige Auffüllung. Krisen sind Chancen, das hat sich herumgesprochen, aber dürfen sie auch mal einfach nur Probleme sein? Schulden werden mit einem reframing in einen anderen Rahmen gestellt, aber werden sie auch mal getilgt? Dass es einem Menschen möglich ist, allein mit der Energie seiner positiven Gedanken Wünsche zu realisieren, kommt vor, aber nie geht umstandslos alles in Erfüllung, was er sich wünscht, nie sind die idealen Verhältnisse zu erreichen, von denen er vielleicht träumt.
    »Immer nur nach vorne schauen«, ist die Devise all derer, die aus dem, was zurückliegt, nichts lernen wollen. Positive Erwartungen zu hegen und optimistisch in die Zukunft zu blicken, ist ein guter Vorsatz, verführt aber dazu, das Negative zu übersehen und nicht rechtzeitig darauf vorbereitet zu sein. Das bloße Positivdenken unterminiert die Sensibilität für Probleme und für berechtigte Kritik, es ist kein lernendes System. Das kann individuell und gesellschaftlich zum Verhängnis werden. Es ist merkwürdig, dass niemandem der Bezug zur totalitären Geschichte des 20. Jahrhunderts auffällt, der aber naheliegt: Menschen in eine positive Gestimmtheit zu versetzen, war auch das Anliegen des nationalsozialistischen Programms »Kraft durch Freude«. Keine Frage, dass Kraft aus Freude resultieren kann, aber ein paar Fragen wären angebracht, um der Missbrauchbarkeit Grenzen zu setzen: Kraft wozu? Aus welcher Freude? Und was ist mit denen, die sich nicht freuen können?
    Eine differenzierte Lebenskunst besteht darin, die Dinge gelegentlich positiv zu sehen und sich dennoch negative Dinge vorbehaltlos klarzumachen. Nicht blind an das Positive zu glauben und dabei blind gegen das mögliche Negative zu werden, sondern kritische Fragen zu stellen und sich an Verbesserungen zu versuchen. Nicht nur im Negativen das Positive, sondern auch im Positiven das Negative zu sehen. Die Probleme auf den Punkt zu bringen und nüchtern nach Lösungen zu suchen, statt sich endlos der Hoffnung hinzugeben, es werde alles gut, wenn man nur lange genug gut davon denkt. So kommen Menschen zügig aus einem Schlamassel wieder heraus, ansonsten dauert es etwas länger.
    Läuft der, der vorweg an das mögliche Negative denkt, nicht Gefahr, es im Sinne einer self-fulfilling prophecy selbst herbeizuführen? Daran glauben nur die, die auch glauben, das Positive werde mit dem bloßen Glauben daran bereits wahr. Eine alte Methode des philosophischen Denkens ist aber nicht nur die positive Deutung, sondern auch das »Vorwegbedenken des Üblen«, um nicht plötzlich davon überrascht zu werden. Sollte das mögliche Negative wirklich eintreffen, trifft es einen Menschen nicht unvorbereitet, und das Leben geht weiter. Bleibt es aus, ist dies umso erfreulicher, und der angenehme Zustand, der gewöhnlich keiner weiteren Beachtung wert wäre, lässt sich nun bewusst genießen. Wer auf diese Weise negativ denkt, wird entweder bestätigt oder erlebt nur Gutes. Stur nur positiv zu denken, kann hingegen böse Überraschungen zur Folge haben.
    Das Sündenregister des Positivdenkens ist lang. Während zünftige Positivdenker in harmlosen negativen Emotionen bereits »emotionale Viren« mit großer Ansteckungsgefahr sehen, ist auch der Virus des Positivdenkens selbst sehr ansteckend, imwörtlichen Sinne: Viele Menschen infizieren sich mit lebensgefährlichen Viren, nur weil sie meinen, ihnen werde schon nichts passieren, sodass sie keinerlei Vorsorge treffen und ihrerseits wiederum Andere gefährden. Ein
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