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Unglücklich sein (German Edition)

Unglücklich sein (German Edition)

Titel: Unglücklich sein (German Edition)
Autoren: Wilhelm Schmid
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Meisterstück des Positivdenkens waren die vergifteten Finanzanlagen in der Frühzeit des 21. Jahrhunderts mit der Hoffnung auf hohe Profite bei denen, die sie erfanden, wie bei denen, die sich darauf einließen. Nicht endende Finanzkrisen, Wirtschaftskrisen, Staatskrisen wurden davon ausgelöst, dass zu viele immer nur positiv dachten und sämtliche Warnungen, die es lange genug gab, sämtliche Alarmglocken, die immer lauter schrillten, hartnäckig ignorierten. Aber die Wirklichkeit lässt sich nicht beliebig zurechtbiegen.
    Auch das Negativdenken behält nicht immer Recht, sonst wäre die Welt schon viele Male untergegangen. Es ist die Eindimensionalität des Positiven wie des Negativen, die der Mehrdimensionalität des Lebens nicht gerecht werden kann. Die Lebenskunst umfasst den Umgang mit beiden Seiten des Lebens, nicht nur mit dem Positiven, Angenehmen und Lustvollen, sondern auch mit dem Negativen, Unangenehmen und Schmerzlichen, mit dem zurechtzukommen ist. Niemand sucht dieses Andere, aber auszuschließen ist es nicht. Ein anders geartetes Glück kommt dabei ins Spiel, das die gesamte Fülle des Lebens umfasst: Nicht nur die günstigen Zufälle und das Wohlfühlglück, sondern auch die Schattenseiten des Glücks, die hier von Grund auf mit einbezogen werden.
    Dieses Glück der Fülle ist davon abhängig, dass ein Mensch für einen Moment innehält und nachdenkt: Was ist eigentlich Leben? Ist es nicht so, dass Leben sich grundsätzlich in Polarität abspielt, zwischen Gegensätzen und Widersprüchen wie Gelingen und Misslingen, Erfolg und Misserfolg, Freude und Ärger, Mut und Angst, Lust und Schmerz, Gesundheit und Krankheit, Zufriedensein und Unzufriedensein, Fröhlichsein und Traurigsein? Das moderne Welt- und Menschenbild ging davon aus, dass irgendwann alles nur noch positiv sein kann, und dennoch gibt es negative Dinge, die nicht verschwinden. Andere Kulturen sind sich darüber im Klaren: »Wir haben nicht diese Idee von einemperfekten Leben, das nicht zerstört werden kann«, sagte die indische Schriftstellerin Arundhati Roy 2011 in einem Interview.
    Die Polarität prägt auch Beziehungen, in denen Menschen sich früher oder später unglücklich fühlen. Meist hat das mit dem Anderen zu tun, der nicht der Richtige ist, der er zunächst war, Weggehen und Austauschen ist dann immer eine Option. Wenn aber dem Unglücklichsein nach noch so vielen Austauschen nicht auszuweichen ist, weil es zumindest zeitweilig dazugehört, was dann? Beziehungen, die ein immerwährendes Wohlfühlglück realisieren wollen, sind rasch am Ende. Wenn hingegen Sinn in einer Beziehung gesehen werden kann, weil sie beispielsweise als Schicksalsgemeinschaft verstanden wird, kann sie auch unglückliche Zeiten besser überstehen. Entscheidend dafür ist die Frage: Kann ich grundsätzlich einverstanden sein mit der Polarität des Lebens, wenn auch nicht in jedem einzelnen Fall? Jeder muss selbst eine Antwort darauf finden. Nur bei einem Einverständnis kann auch das Unglücklichsein zum Leben und zur Liebe gehören. Im besten Fall lässt es sich mäßigen, aber die Voraussetzung dafür ist, es in seinem Recht auf Existenz anzuerkennen.
    Das Glück der Fülle ist ein atmendes Glück , denn auch das Glück muss atmen können. Kein Mensch kann immer nur einatmen, jeder muss wieder ausatmen, bevor er erneut einatmen kann. So kann ein Mensch zwischen den Polen des Positiven und Negativen hin- und hergehen: Mit dem, was guttut, neuen Atem schöpfen, gerade in einer problematischen Zeit, in der das Leben eng wird – und auf einer Höhe des Lebens darauf vorbereitet sein, dass es noch andere Zeiten geben wird. Die gesamte Weite der Erfahrungen zwischen Gegensätzen vermittelt erst den Eindruck eines erfüllten Lebens. Das ist das eigentlich philosophische Glück, das nicht abhängig ist von günstigen oder ungünstigen Zufällen und von den momentanen Schwankungen zwischen Wohlgefühl und Unwohlsein. Dieses Glück ist von einer Dauerhaftigkeit, die schon die antiken Philosophen ihm zuschrieben, und es muss auch das Depressivsein nicht ausschließen, das eine verbreitete Form des Unglücklichseins ist.

5.
Depressiv sein: Die Melancholie
    Depressiv, bedrückt oder niedergedrückt zu sein von einer Last, hat in den allermeisten Fällen nichts mit einer Krankheit namens Depression zu tun und tritt meist auch nicht klinisch in Erscheinung. Der alltägliche Sprachgebrauch ist hier so ungenau wie die medizinische Begrifflichkeit, aber beim
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