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Unglücklich sein (German Edition)

Unglücklich sein (German Edition)

Titel: Unglücklich sein (German Edition)
Autoren: Wilhelm Schmid
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reguliert.
    Schwierigkeiten bereitet der Graubereich zwischen Melancholie und Depression, medizinisch gesehen zwischen leichten und schweren depressiven Episoden, die beide noch dazu mit psychotischen Symptomen einhergehen können. Wo genau istder Übergang zur Krankheit? Eine depressive Reaktion tritt als Folge akuter oder chronischer Belastungssituationen auf und geht vielleicht auf traumatische Erfahrungen zurück, die sich zu Neurosen entwickeln können. Ohne erkennbare äußere Ursachen kann eine endogene Depression im Inneren des Menschen selbst entstehen und die Stoffwechselvorgänge im Gehirn verändern, möglicherweise genetisch bedingt. Eine larvierte Depression verbirgt sich in Schmerzen und körperlichen Symptomen. Eine manisch-depressive Erkrankung wirft Menschen mehr oder weniger heftig zwischen Phasen manischer Lebendigkeit und depressiver Todesnähe hin und her, »himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt«.
    Mit der Diagnose Depression überschneidet sich die des Burnout , des Ausgebranntseins, die im Zweifelsfall Vorrang genießt, da sie positiver klingt: Da hat sich jemand überarbeitet, wenn nicht sogar aufgeopfert für Andere, für die Familie, die Firma, die Gesellschaft (ein »selbst schuld« schwingt nur leise in Klammern mit). Auch das Ausgebranntsein bewegt sich im weiten Spektrum zwischendem Zustand der Melancholie, der zum Leben gehört, und der Krankheit der Depression, die im schlimmsten Fall lebensbedrohlich sein kann. Daraus ergeben sich Konsequenzen: Für die einfache Erschöpfung genügt eine Auszeit, ein wenig Erholung und ein Bemühen um die Selbstfreundschaft, die eine größere Aufmerksamkeit auf sich und einen besseren Umgang mit sich ermöglicht. Für die völlige Erschöpfung , die chronisch wird, kann die Behandlung ungleich langwieriger sein; eine Rückkehr ins Leben, wie es gelebt worden ist, erfordert eine anhaltende Unterstützung durch Andere.
    Als Gründe für die um sich greifenden Erschöpfungszustände in moderner Zeit werden häufig schwierige Beziehungen und belastende Arbeitsbedingungen genannt. Gab es die nicht auch in früheren Zeiten? Chronisch erschöpft ist wohl schon Antonio, Shakespeares Kaufmann von Venedig , der von sich sagt: »Ich weiß nicht, warum ich so traurig bin.« Er kennt die Gründe nicht und hat keinen Begriff für seinen Zustand, also fühlt er keine Berechtigung zu ihm. Für viele ist nur dort, wo ein Begriff ist, auch eine Realität; sobald aber ein Begriff da ist, stürzen sich alle darauf, um ihre Realität in ihm unterzubringen. Das kann eine Funktion des Begriffs »Burnout« sein: Realität zu fassen, wie Menschen sie wahrnehmen, und eine Reaktion darauf zu ermöglichen. Die Definition als Krankheit ermächtigt Menschen zur Erschöpfung und berechtigt sie zur Genesung. Die Gründe für die Erschöpfung in der Moderne könnten jedoch noch andere als zu anderen Zeiten sein, Therapien sollten darauf antworten können.
    Immer mehr Menschen entbehren in der modernen Gesellschaft Sinn , in allen Bereichen und auf allen Ebenen: Sinn der Arbeit, Sinn des eigenen Lebens, Sinn des Lebens überhaupt. Sinn verleiht Kräfte, Sinnlosigkeit entzieht sie. Wenn Menschen Sinn sehen, können sie sehr vieles durchstehen und bewältigen, ohne jeden Sinn kaum etwas. Einst vermuteten die Menschen Sinn im Schicksal und in einer höheren Fügung. Sie fragten nicht nach Sinn, sondern bezogen ihn, ohne sich dessen bewusst zu sein, aus verlässlichen Beziehungen zu Anderen und zu einer außermenschlichen Instanz. Aufgrund des Versiegens vieler Sinnquellen wirdim Laufe der modernen Zeit immer vernehmlicher nach Sinn gefragt. Der materielle Wohlstand gibt keine befriedigende Antwort auf die Sinnfrage, wenn nicht deutlich wird, welcher ideellen Zielsetzung er dient, sodass daraus Sinn und somit Energie zu gewinnen ist. Jeder Versuch, das Vakuum an Sinn mit materiellen Gütern zu füllen, erzeugt eher Angst, denn sie können jederzeit wieder verloren werden. Wo können moderne Menschen Sinn finden?
    Sie erhoffen ihn vom Glück. Aber Glück kann Sinn nicht ersetzen, schon gar nicht das flüchtige Wohlfühlglück. Die Dringlichkeit des Strebens nach Glück ist lediglich ein Indiz für die Verzweiflung, die die Entbehrung von Sinn hervorruft. Weil die stressigen Bedingungen des modernen Lebens, Liebens und Arbeitens an den Lebenskräften zehren, sollen mit der Aussicht auf Glück die letzten Reserven mobilisiert werden. Ahnen die Menschen, was ihnen droht? Um dem
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