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Unfassbar für uns alle

Unfassbar für uns alle

Titel: Unfassbar für uns alle
Autoren: Horst (-ky) Bosetzky
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wollen, war aber aus irgendwelchen Gründen in die andere Richtung geraten. Viele Leute neigen ja dazu, bei ihren Beschreibungen links und rechts durcheinanderzubringen. Ich zum Beispiel. Oft genug hatte ich Heike, wenn sie am Lenkrad saß und ich auf dem Beifahrersitz, zur Verzweiflung gebracht. Darum klebte bei uns am Handschuhfach ein Schild mit entsprechenden Aufschriften und Pfeilen. Luise Tschupsch also war irgendwie nach links geraten, hatte sich in der Dunkelheit verirrt, war dann unter der Eisenbahnbrücke hindurch auf die andere Seite der vier Gleise gelangt. Zu mir hin lagen die beiden S-Bahn-, zum Lehnitzsee hin die zwei Fernbahngleise. Und nur auf dieser abgewandten Seite gab es einen schmalen, aber mit einem Geländer ausreichend abgesicherten Fußgängersteg neben den Schienen. Man mußte zwar den steilen Bahndamm auf lockerem Sand hinaufkraxeln, aber das war dennoch die übliche Abkürzung zwischen Lehnitz und Oranienburg. Da gab es verschiedene Laternen und Signale, so daß es so dunkel gar nicht war. Das wußte ich noch von gestern abend her. Es war kaum daran zu zweifeln, daß Luise Tschupsch diesen Weg genommen hatte, um auf die Lehnitzer Seite des Kanals zu kommen. Ein Stückchen weiter begannen die Häuser, gab es unbefestigte Wege und die Straße zum Bahnhof. Doch bevor sie die Siedlung erreichen konnte, war sie ihrem Mörder begegnet.
    Ein Dreiviertelzug der S-Bahn rollte Richtung Frohnau. Vom Lehnitzsee her kam ein polnisches Schubschiff heran, voll mit Kies beladen. Von einem Boot oder Schiff aus hätte man auch bequem auf jemanden schießen können...
    «Wo bleibste denn, biste atrunken?» Yaiza Teetzmann stand in der Tür.
    Es roch fürchterlich nach Kampfer und anderen Einreibemitteln. Frau Bücknitz hatte inzwischen Kaffee gekocht. Trotz ihrer Gehbehinderung. Wir nahmen Platz. Alle um einen kleinen Couchtisch herum. Letzten Sommer war sie, wie ich bald erfuhr, vor dem Oranienburger Schloß von einem Trabi angefahren worden und hatte sich mehrere komplizierte Brüche zugezogen. Gearbeitet hatte sie bis dahin als Verkäuferin in einer Kaufhalle in der Straße des Friedens.
    «Jetze ja wieder Bernauer Straße...» Sie geriet sehr schnell ins Plaudern. «Nu is ja wohl nischt mehr. 67 werd ick – und als Humpelbeen... Naja... Solange man noch lebt, is Hoffnung. Die Luise ist schlimmer dran...» Wieder mußte sie zum Taschentuch greifen. «Wenn det mit dem Been nich wäre, hätt ick sie ja zum Bahnhof jebracht.»
    «Aber Frau Bücknitz, das ist doch nicht Ihre Schuld, daß das alles so gekommen is.»
    «Doch...»
    «Wieso’n das?»
    «Na, ick bin doch uff die Idee jekommen mit das Klassentreffen ...»
    «Dem Klassentreffen, wie...?»
    «Vor Weihnachten. Det wa uns alle noch mal sehn. Warn überall Anzeigen drinne, also so Berichte, ooch in Berlin, in die Morgenpost und inne BZ. Und so is det rum. Alle aus da Volksschule, wie wa einjeschult worden sind... 1934 war dit.»
    Yaiza Teetzmann wurde schon ein wenig ungeduldig und wollte endlich wissen, weshalb Luise Tschupsch nun gestern nach Oranienburg gekommen war.
    «Weil ick seit letzte Woche Telefon hab...» Frau Bücknitz zeigte auf ihren nagelneuen weißen Apparat. «Und da hab ick reihum alle anjerufen. Und als se jehört hat, wat mit meim Bein jetzt is, det ick nach da letzten Operation dauernd liejen muß, isse jleich rausjekommen.»
    «Und wann ist sie gestern abend bei Ihnen weg?»
    Frau Bücknitz mußte da nicht lange überlegen. «Kurz vor halb neune. 20 Uhr 43 fährt der Zuch von Lehnitz ab – und den wollt se kriegen. Hättse ooch bequem jeschafft. Mein Gott...» Wieder begann sie zu schluchzen.
    Yaiza Teetzmann legte ihr die Hand auf die Schultern. Nur das Ticken der großen Standuhr war zu hören. Das monotone Schwingen des Perpendikels nervte mich. Außerdem mußte ich schon wieder dringend pinkeln. In der Harnröhre brannte es höllisch. Primitiv, wie es hier war, wagte ich nicht, nach der Toilette zu fragen. Wahrscheinlich benutzte die Bücknitz so eine Art Zimmerklo. Ich wollte unseren Besuch schnell zu Ende bringen. Die Postkarte aus Moskau war mir eingefallen, als ich auf dem Vertiko eine russische Puppe-in-der-Puppe gesehen hatte.
    «Wissen Sie denn, Frau Bücknitz, ob Ihre Freundin irgendwelche Freunde in der Sowjetunion gehabt hat, Rußland, der GUS?»
    «Nein...»
    «Und hier in Oranienburg...? Noch andere Kontakte außer zu Ihnen?»
    «Eijentlich nur noch den Waldemar.»
    Ich lachte und sagte, das war wie ein Reflex,
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