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Und raus bist du: Kriminalroman (German Edition)

Und raus bist du: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Und raus bist du: Kriminalroman (German Edition)
Autoren: Carin Gerhardsen
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und mich zu einem tüchtigen und alltagstauglichen Menschen erzogen. Ich klage dich auch nicht an, darum geht es hier nicht. Und ich verstehe, wie es dir gegangen sein muss. Jetzt verstehe ich es. Ich sage es noch einmal: Ich finde wirklich, dass du ein bewundernswerter Mensch bist. Ich kann auch verstehen, warum du mir nie etwas erzählt hast. Es war deine Art, über alles hinwegzukommen, und du hast das getan, von dem du glaubtest, dass es das Beste für mich war. Aber jetzt muss ich es wissen, Mama. Jetzt musst du es mir erzählen. Die ganze Geschichte über all das Schreckliche, das in jener Nacht passiert ist, und über das, was danach kam.«
    Die Mutter hatte in ihren Bewegungen innegehalten, kehrte ihm aber weiterhin den Rücken zu. Er fragte sich, ob sie weinte. Er konnte sich nicht erinnern, sie jemals weinen gesehen zu haben. Die Kaffeemaschine gab ein blubberndes Geräusch von sich, und gemütlicher Kaffeegeruch breitete sich in der Küche aus.
    »Jetzt komm und setz dich, Mama«, sagte Sjöberg freundlich.
    »Der Kaffee ist fast fertig.«
    »Möchtest du ein Glas Likör zum Kaffee?«
    »Nein, das ist doch nicht nötig ...«
    Näher konnte seine Mutter einem Ja nicht kommen, wenn sie auf diese Art von Fragen antwortete, also stand Sjöberg auf und holte eine Flasche Orangenlikör, die er selbst einmal gekauft hatte, aus dem Fach oberhalb des Kühlschranks. Aus der Vitrine im Wohnzimmer holte er ein Likörglas.
    Als er sich wieder an den Tisch gesetzt hatte, schenkte er das Glas fast voll und wartete schweigend darauf, dass der Kaffee endlich fertig wurde. Die Mutter servierte jedem eine Tasse und setzte sich schließlich zu ihm. Er stellte das Glas vor ihr auf den Tisch und schlürfte vorsichtig den heißen Kaffee.
    »Möchtest du kein Butterbrot haben?«, fragte sie plötzlich, aber Sjöberg wollte sich nicht länger hinhalten lassen.
    »Erzähl jetzt, Mama. Ich weiß, wie anstrengend es für dich ist, und für mich ist es auch nicht leicht, aber ich bin ja bei dir.«
    Er legte seine Hand auf ihre, und sie machte keine Anstalten, sie zurückzuziehen.
    »Erzähl mir von Alice«, sagte er sanft und schaute ihr direkt in die Augen.
    Dieses Mal wich sie seinem Blick nicht aus, und er sah, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen. Er hielt ihre Hand ganz fest.
    »Ich kann nicht über Alice sprechen«, sagte sie langsam.
    »Du musst, Mama. Ich möchte meine Schwester kennenlernen.«
    Die Mutter holte tief Luft, und alle Dämme brachen. Die Tränen rannen ihre faltigen Wangen hinunter, und zum ersten Mal ließ sie los, woran sie sich so viele Jahre festgehalten hatte – das Schweigen. Auch Sjöberg konnte die Tränen während der Erzählung seiner Mutter nicht zurückhalten, die eine vertraute Saite in ihm anschlug.
    In den Stunden, die folgten, weinten sie zusammen und trösteten einander, während sie die beschwerliche Reise in die Vergangenheit unternahmen. Sie erzählte von einer Augustnacht 1961, als Eivor Sjöberg mitten in der Nacht von einem starken Brandgeruch und zunehmender Hitze im Schlafzimmer im Obergeschoss geweckt wurde. Neben ihr im Bett lag ihr Mann, Christian, und sie schrie und schüttelte ihn, aber er wollte nicht aufwachen. Sie versuchte ihn aufzurichten, aber er war unwillig und zu schwer.
    »Alice«, schrie sie, aber die bald sechsjährige Tochter, die am weitesten von ihr entfernt am Fenster lag, wollte ebenfalls nicht aufwachen.
    Sie stürzte zu Alice hinüber und schüttelte sie. Ihr rot gelocktes Haar lag ausgebreitet wie ein Fächer hinter ihrem kleinen, sommersprossigen Gesicht. Das Mädchen schlug langsam die Augen auf.
    »Alice«, schrie sie noch einmal. »Es brennt! Du musst in den Hof hinunterlaufen! Ich nehme deinen kleinen Bruder!«
    Aus dem Erdgeschoss hörte sie das Geräusch von zerspringenden Fenstern. Sie eilte zum Doppelbett zurück, nahm alle Kräfte zusammen und konnte den schweren Männerkörper schließlich auf den Boden rollen. Da endlich wachte er auf und murmelte ein paar unzusammenhängende Worte, während er sich aufsetzte.
    »Es brennt, Christian!«, rief sie, während sie die Decken von dem kleinen Jungen riss, der tief auf einer Matratze auf dem Boden schlief, und nahm ihn auf den Arm. »Nimm Alice und bring sie nach unten auf den Hof!«
    Bevor sie das Zimmer verließ, drehte sie sich nach ihrer Tochter um, die die Augen schon wieder geschlossen und sich auf die Seite gerollt hatte. Aber Christian kroch keuchend und fluchend auf allen vieren zu ihr
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