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Und Nachts die Angst

Und Nachts die Angst

Titel: Und Nachts die Angst
Autoren: Carla Norton
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behaupten Sie, Sie wollten lieber asexuell bleiben, da es zu schwierig wird, sich auf eine Beziehung einzulassen. Sehen Sie den Widerspruch, der darin liegt?«
    Sie rutscht unruhig auf der Couch herum und knetet die taube Stelle an ihrer linken Hand. »Okay. Und was ist so schlimm daran?«
    »Wenn Sie dadurch frustriert oder wütend werden …«
    »Dann habe ich in diesem Bereich noch ungeklärte Gefühle«, sagt sie knapp. »Weiß ich, ja.«
    Bitsy schüttelt sich, springt zu Boden und tappt durch das Zimmer, um sich neben Dr. Lerner zusammenzurollen. Reeve beobachtet den Hund stirnrunzelnd.
    »Hören Sie, Sie haben unermüdlich daran gearbeitet, die traumatische Vergangenheit zu überwinden und sich Ihr Leben zurückzuerobern«, sagt Dr. Lerner sanft. »Seien Sie stolz darauf. Sie haben keinen Grund, wütend auf sich zu sein, denn es gibt keine Fristen.«
    Reeve legt die Fingerspitzen an ihre Schläfen und übt starken Druck aus, als ließen sich die Gedanken dadurch zurechtrücken.
    »Aber Sie sind diejenige, die Schwierigkeiten hat, Beziehungen zu knüpfen«, fährt er fort. »Und Sie sind auch diejenige, die sich selbst dafür verurteilt, erkennen Sie das?«
    »Okay. Es ist nur so, dass ich …«, sie holt tief Luft und fährt fort, »… dass ich ein paar von Ihren Studien gelesen habe.«
    »Tatsächlich.« Es ist eine Feststellung, als hätte er es längst gewusst.
    »Die eine vom letzten Monat im American Journal of Forensic Psychology zum Beispiel.«
    »Und?«
    »Und ich denke, dass ich mich darin wiedergefunden habe.«
    Er seufzt. »Reeve, wir haben doch darüber gesprochen. Sie wissen, dass ich ohne Ihre Erlaubnis nicht über Sie schreiben würde. Meine Artikel basieren auf anderen Fällen.«
    »Ja, aber dennoch. Ich habe mich wiedererkannt, okay?«
    »Und inwiefern?«
    »In dem Abschnitt, in dem es um das extreme Kontrollbedürfnis geht. Und darum, ›in einer Phase arretierter Genesung‹ festzustecken.«
    »So sehen Sie das?«
    Sie zuckt leicht mit den Schultern. »Sie nicht?«
    »Reeve, hören Sie zu. Dieser Artikel handelt von einer komplett anderen Situation, nämlich von einer jungen Frau, die von ihrem Vater eingesperrt wurde. Sie beide waren jung, Sie beide haben Schlimmes durchlitten. Aber die psychischen Auswirkungen von Inzest und Sadismus sind sehr verschieden.«
    »Das ist mir alles klar.«
    Er mustert sie, und sie weiß, dass er versteht, was sie nicht ausspricht: Selbst nach all den Jahren und obwohl sie weiß, dass sie in San Francisco sicher ist und Daryl Wayne Flint weit weg hinter Schloss und Riegel sitzt – die finsteren Jahre der Gefangenschaft bleiben doch ewig präsent wie ein ekeliger Geschmack, den man nicht loswird. »Vom Verstand her ist mir das klar«, setzt sie hinzu und betrachtet den persischen Teppich, die gerahmte Kunst.
    Als ihr Blick wieder bei Dr. Lerner ankommt, beugt er sich ein Stück vor. »Reeve, ich weiß, dass Sie diese Studien lesen, und es spricht für Sie, dass Sie mehr über die langfristigen Auswirkungen von Gefangenschaften wissen wollen.« Er spricht freundlich, aber sehr bestimmt. »Aber nicht alles in der Fachliteratur lässt sich auf Sie anwenden.«
    Sie zieht ein Gesicht. »Der Fluch, sich zu sehr mit sich selbst zu beschäftigen.«
    Er sagt nichts, sondern sieht sie nur an.
    »Okay. Ich weiß. Ich kann nicht davon ausgehen, dass jeder Artikel zu diesem Thema auf meine individuelle Situation übertragbar ist«, imitiert sie den Fachjargon. »Aber ich möchte einfach nicht mehr das Gefühl haben, dass es in mir einen hässlichen Fleck gibt, den niemand je begreifen kann. Ich will ein ganz normales Leben führen und eine ganz normale Erwachsene sein.« Sie sieht ihn an, dann wendet sie den Blick ab. »Ich weiß, dass Sie das Wort nicht mögen, aber Sie wissen, was ich meine.«
    »Reeve, Sie sind normal. Aber Sie wurden Opfer einer einzigartigen traumatischen Situation, die Sie ungeheuer gut bewältigt haben. Das ist keine Kleinigkeit, und es ist verständlich, dass Sie noch immer Schwierigkeiten haben, sich anzupassen oder sich in Gegenwart von Männern wohl zu fühlen …«
    »In Ihrer Gegenwart fühle ich mich wohl.«
    »Also seien Sie nicht so streng mit sich. Entspannen Sie sich. Sie sind noch jung, und Ihr Bedürfnis nach Selbstschutz sollte Sie nicht Ihr ganzes Leben lang daran hindern, neue Beziehungen aufzubauen.«
    »Warum nicht?«
    Das Schweigen zieht sich wie Gummi in die Länge. Sie weiß, dass ihre Frage müßig war und er nun darauf
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