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Und manche liebe Schatten steigen auf

Und manche liebe Schatten steigen auf

Titel: Und manche liebe Schatten steigen auf
Autoren: Carl Reinecke
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würde nicht gewagt haben, Schumann gegenüber so selbständig zu verfahren, wie mir nötig erschien. Deshalb bat ich ihn, mich von dieser Aufgabe, der ich mich nicht gewachsen fühlte, zu dispensieren, so dankbar ich auch für das mir bewiesene Vertrauen sei. Später übernahm er dann die Instrumentation selbst. Nun folgen nur noch trübe Erinnerungen an Abende nach Konzerten, wenn der bedauernswerte Meister, gepeinigt von Halluzinationen, eine uns endlos scheinende Zeit stumm dasaß, die Stirne auf die Hand gestützt, während wir um ihn herum in lautlosem Schweigen verharrten, und so denke ich auch an einem Moment, an dem er – das einzige Mal in seinem Leben – unfreundlich gegen mich war. Das Künstlerpaar hatte uns jungen Musikern, die wir den Vorzug genossen, oftmals Einladungen zu erhalten, an einem Sonntag Vormittage die noch ungedruckten vierhändigen Ballszenen vorgespielt; es war nun noch eine Stunde bis zur Tischzeit, Schumanns empfahlen sich bis dahin, und wir gingen auf unser Zimmer, nahmen die Ballszenen, die uns natürlich lebhaft interessierten, mit und fingen an, sie durchzuspielen, als plötzlich Schumann erschien, mit zürnendem Blicke die  Noten vom Pulte riss und, ohne ein Wort gesagt zu haben, verschwand. Wir waren wie vernichtet und stellten uns begreiflicherweise mit wenig angenehmen Empfindungen zur Mittagstafel ein, aber unsere Angst war umsonst gewesen, denn Schumann hatte anscheinend vergeben und vergessen und war doppelt freundlich. Während der Kölner Karnevalszeit, inmitten einer bunten Maskengesellschaft, ereilte mich die Schreckenskunde, dass Schumann in gänzlich geistiger Umnachtung sich in den Rhein gestürzt habe! Er wurde bekanntlich gerettet, aber nun ging die Tragödie unaufhaltsam ihrem Ende zu, bis am 29. Juli 1856 der Todesengel den unglücklichen Dulder von seinem Leiden befreite.  
     
     

Jenny Lind
     
     

Er war eine stürmische Seefahrt, die mich im Juni 1843 von Kopenhagen nach Stockholm brachte. Ich befand mich als einziger Philister in Gesellschaft einiger hundert dänischer Studenten, welche die „Calmarer Union“ in Stockholm feiern wollten, und hatte die Fahrt lediglich aus Reiselust unternommen, weil man mir einen Platz auf dem von den Studenten gemieteten Dampfer freundlichst angeboten hatte. „Wer kann da widerstehen!“ hatte ich mit Don Ottavio gesagt, und so kam ich nach Stockholm. Da ich manche gute Empfehlung an dortige einflussreiche Persönlichkeiten mitgebracht hatte (unter anderem an den berühmten Chemiker Baron von Berzelius, dessen Gattin eine leidenschaftliche Musikfreundin war), und in diesen Kreisen eine wohlwollende Aufnahme zu finden hoffte, so machte ich mich nun auch mit dem Gedanken vertraut, meine Tage in der schwedischen Hauptstadt nicht nur als müßiger Tourist zu verbringen, sondern auch als Klavierspieler mein Glück mit einem Konzerte zu versuchen. Wenn ich nun mit irgend jemandem über dieses etwas kühne Projekt sprach, hieß es sofort: „Ah! Da müssen Sie zu Jenny Lind gehen und sie um ihre Mitwirkung bitten. Wenn die zusagt, sind Sie eines vollen Hauses sicher!“ Ich hörte den Namen Jenny Lind zum ersten Male, und der gleiche Enthusiasmus, der aus aller Leute Rede hervorklang, machte mich äußerst begierig, diesen Liebling von ganz Stockholm, vielmehr den Stolz ganz Schwedens, zu hören. Ich ging in die Oper und hörte Jenny Lind als Lucia in Donizettis Lucia di Lammermoor. Obgleich die Opern von Donizetti und Bellini damals noch lange nicht so von oben herab beurteilt und so verächtlich beiseite geschoben wurden wie heutzutage, so hatte doch auch ich infolge meiner musikalischen Erziehung ein großes Vorurteil gegen diese Art italienischer Opern, wenngleich ich bis dahin nur wenige derselben gehört hatte. Aber mein Urteil wurde doch ein wesentlich anderes, als ich Jenny Lind als Lucia hörte.
    Was mir vordem trivial erschienen, war durch ihren wunderbar poetischen Vortrag geadelt worden, und ich musste mir doch mit einiger Überraschung gestehen, dass jene geschmähten Italiener es wohl verstanden haben, für die Stimme so gut zu schreiben, dass der Sänger imstande ist, den reichsten Schatz seiner Empfindungen in ihre Melodien hineinzulegen, selbst wenn diese an sich, meinem deutschen Empfinden gemäß, der jeweiligen Situation widersprechen. Wer je eine Norma oder Lucia oder Sonnambula von Jenny Lind oder einen Romeo von der Schröder-Devrient zu hören das Glück gehabt hat, wird – wenn er auch im Prinzip
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