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Und kurz ist unser Leben

Und kurz ist unser Leben

Titel: Und kurz ist unser Leben
Autoren: Colin Dexter
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Ihrem
Feierabend noch mal vorbei und geben mir einen keuschen Kuss?»
    «Nein. Ich muss schnellstens
zurück nach Lower Swinstead, weil ich diesen Anruf erwarte.»
    «Von... von Ihrem Mann?»
    «Es darf gelacht werden! Frank
ist auf ein paar Tage in der Schweiz und viel zu geizig, um von da aus
anzurufen. Nicht mal zum Billigtarif.»
    «Von einem anderen Mann in Ihrem
Leben?»
    «Von wem denn sonst? Oder
denken Sie, ich bin andersrum?»
    «Sie sind ein erstaunliches
Mädchen.»
    «Mädchen? Am Donnerstag werde
ich achtundvierzig.»
    «Ich würde Sie zu gern zu Ihrem
Geburtstag ausführen und verwöhnen.»
    «Nichts zu machen. Auf Ihrem
Krankenblatt steht, dass Sie noch bis mindestens Ende der Woche hier bleiben
müssen.»
    «Irgendwie hätte ich gar nichts
dagegen, auf Dauer hier zu bleiben.»
    «Also, eins kann ich Ihnen
versprechen: Sobald Sie entlassen sind, melde ich mich.»
    «War schön, wenn Sie es
einrichten könnten.»
    «Und dann besuchen Sie mich
mal?»
    «Wenn ich eine Einladung
bekomme.»
    «Betrachten Sie sich hiermit
als eingeladen.»
     
     
     
     

Kapitel
1
     
    Du
holde Kunst, in wie viel grauen Stunden,
    Wo
mich des Lebens wilder Kreis umstrickt,
    Hast
du mein Herz zu warmer Lieb entzünden,
    Hast
mich in eine beß’re Welt entrückt.
    (Schubert, An die Musik)
     
    Mit Ausnahme von Wagner
natürlich und mit Ausnahme von Mozarts Klarinettenkompositionen war Schubert
einer der wenigen Tondichter, die ihn hin und wieder fast zu Tränen rühren
konnten. An jenem frühen Abend des 15. Juli 1998, einem Mittwoch, saß Chief
Inspector Morse, nachdem er sich die Archers zu Gemüte geführt hatte, in
Hausschuhen in seiner Junggesellenwohnung in North Oxford und hörte, einen
großzügig eingeschenkten goldenen Glenfiddich in Griffweite, einen von Radio 3
übertragenen Liederabend mit Schubert-Kompositionen. Er hatte ein paar Tage
Urlaub, die bisher überraschend angenehm verlaufen waren.
    Morse hatte sich nie in die
Heerscharen jener Zeitgenossen eingereiht, die es auf der Suche nach Abenteuern
in ferne Welten zieht. Nicht einmal die entfernteren Ecken und Winkel seiner
Heimat näher zu erkunden reizte ihn sonderlich, denn wenn er ehrlich war,
konnte er sich nicht vorstellen, dass ihm ein Ort lieber werden könnte als
Oxford, eine Stadt, die zwar nicht seine leibliche Mutter war, ihn aber seit
vielen Jahren mit der liebevollen Fürsorge einer Pflegemutter umgab. Was das
Ausland betraf, so waren die Knabenträume, in denen er durch die Wüsten um
Samarkand gestreift war, längst verweht, und wegen einer lebenslangen Flugangst
war es ihm auch versagt, schnell einmal nach Bayreuth, Salzburg oder Wien zu
fliegen, jene Städtedreiheit, die man, wie er sich hin und wieder sagte,
eigentlich gesehen haben musste.
    Wien...
    Die Stadt, die Schubert kaum je
verlassen, in der er so wenig Anerkennung gefunden hatte und in der er, erst
einunddreißig, am Typhus gestorben war.
    Einunddreißig... Kein langes
und wohl auch kein besonders glückliches Leben.
    Morse lehnte sich zurück,
lauschte der Musik und sah einigermaßen zufrieden durch die Terrassentür nach
draußen. In seiner Ballade vom Zuchthaus zu Reading hatte Oscar Wilde
von jenem kleinen Flecken Blau gesprochen, das Gefangene den Himmel nennen; der
Blick von Chief Inspector Morse richtete sich jetzt auf jenen kleinen Flecken
Grün, den die Wohnungsbesitzer von North Oxford Garten zu nennen pflegen. Schon
als Schuljunge hatte sich Morse sehr für Blumen interessiert, allerdings waren
es mehr die Nomenklatur der verschiedenen Arten und ihre Beziehung zu den
Werken der großen Dichter, die seine Phantasie beflügelt hatten: schnell
welkende Veilchen, kugelige Päonien, die Felder wogender Narzissen... Morse
kannte sich in der Etymologie und den mythologischen Assoziationen der
Narzissen bestens aus, hätte aber ein einzelnes Exemplar auf einer flimmernden
Technicolor-Leinwand wohl kaum erkannt.
    Doch es stimmte schon: Je älter
der Mensch wurde, desto wichtiger wurden für ihn die Freuden der Natur. Und
zwar nicht nur die Blumen. Wie stand es mit Vögeln?
    Für den zum Glück recht
unwahrscheinlichen Fall seiner Wiedergeburt hatte Morse beschlossen, sich als
Teilzeit-Quäker registrieren zu lassen und einen beträchtlichen Teil seiner
Mußestunden der Ornithologie zu widmen. Zu letzterer Entscheidung hatte ihn die
Erkenntnis bewogen — besser spät als nie! —, dass ein Leben ohne Vogelgesang
wesentlich ärmer wäre. Deshalb hatte er in der vergangenen Woche
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