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Und kurz ist unser Leben

Und kurz ist unser Leben

Titel: Und kurz ist unser Leben
Autoren: Colin Dexter
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mache es Spaß, gejagt und von den Hunden in
Stücke gerissen zu werden.»
    «Glaubt er denn, dass es den
Hühnern Spaß macht, von dem Fuchs in Stücke gerissen zu werden?»
    «Zweitens, dass Menschen, die
auf die Jagd gehen, sich selbst sehr viel mehr schaden als den Tieren, die sie
jagen. Sie laufen große Gefahr, sich zu brutalisieren, ihre Menschlichkeit zu
verlieren.»
    Lehrer und Schülerin sahen sich
einen langen Moment über den Schreibtisch hinweg leicht befangen an. Der große
Meister meinte etwas wie Zorn in den dunkelbraunen Augen der jungen Frau
aufflammen zu sehen.
    Sie ergriff zuerst wieder das
Wort.
    «Darf ich etwas sagen?»
    «Natürlich.»
    «Ich wundere mich, das ist
alles. Ich akzeptiere — in großen Teilen jedenfalls — Ihre Kritik an meiner
Arbeit und meinem Umgang mit den Patienten. Allerdings habe ich den Eindruck,
dass auch Sie mit Ihren Patienten nicht nur über Diabetes sprechen.»
    «Getroffen.»
    «Aber Sie haben schon Recht...
Robert. Ich war zu geschwätzig. Und ich verspreche, bei Mr. Morse mein Möglichstes
zu tun, um ihn zu etwas mehr Disziplin und geregelter Lebensweise zu bekehren.»
    Turner gab keine Antwort. Er
ließ ihr gern das letzte Wort, weil sie dann mit einem guten Gefühl an das
Gespräch zurückdenken würde. Doch als sich die Tür hinter ihr geschlossen
hatte, sagte er seufzend: «Leider, leider, schöne Dame im rosa Kittel, gibt es
sehr wenig Hoffnung, Chief Inspector Morse zu mehr Disziplin und einer
geregelten Lebensweise zu bekehren.»

Kapitel 7
     
    Wer
würde schon auf den Gedanken kommen, die Begriffe Typenprüfung und Führerschein
zu verwechseln? Sie würden sich wundern. Stellen Sie sich heute Abend einfach
mal vor den Spiegel und sagen Sie die beiden Worte lautlos vor sich hin.
    (Lynne
Dubin, Die Kunst des Lippenlesens)
     
    Behinderungen werden, wie viele
traurige Begleiterscheinungen unseres Lebens, gern euphemistisch verbrämt.
Diesem Brauch verdanken wir die erfreuliche Tatsache, dass keine Blinden,
Impotenten und Schwerhörigen mehr unter uns weilen. Stattdessen bezeichnen wir
unsere Mitpatienten in den entsprechenden Ambulanzen als sehbehindert, als
Opfer chronischer erektiler Dysfunktion, als Bürger mit ernsthaften
Hörstörungen. Die Angehörigen solcher Gruppen hingegen wissen ganz genau, was
mit ihnen los ist, und in der letztgenannten Gruppe ziehen sie es vor, schlicht
und einfach «schwerhörig» genannt zu werden, auch wenn ihnen natürlich klar
ist, dass es da graduelle Unterschiede gibt und bei manchen die Schwerhörigkeit
in einer extremen Form auftritt.
    Wie bei Simon Harrison.
    1978 war er sechs und besuchte
eine Dorfschule in Gloucestershire, wo ein lokal begrenztes Auftreten von
Gehirnhautentzündung die Bevölkerung in große Sorge versetzte. Besonders galt
das für die Familie Palmer in der High Street, deren einzige Tochter starb, und
für die Familie Harrison in der Church Lane, deren Sohn sich nach drei Wochen
auf der Intensivstation langsam wieder erholte, aber einen irreversiblen
Hörschaden zurückbehielt. Auf dem linken Ohr hatte er nur noch eine
Hörfähigkeit von 25 Prozent, auf dem rechten Ohr hörte er so gut wie gar nichts
mehr.
    Danach hatte sich für Simon das
gesellschaftliche Umfeld stark verengt, und auch seine Aus- und Weiterbildung
war gefährdet. Er fühlte sich wie ein Sportler, der mit Armeestiefeln einen
Hundertmeterlauf über Sanddünen machen muss, wie ein Schüler, der mit dicken
Wattepfropfen in den Ohren versucht, den Anweisungen eines Lehrers zu folgen,
der hinter einer Tür mit dicker Täfelung spricht.
    Ach ja, Schwerhörigkeit war
schon eine Last.
    Doch Simon war eine
Kämpfernatur und hatte nach Kräften versucht, das Beste aus der Sache zu
machen. Er übte sich in der Kunst des Lippenlesens, versuchte zusätzlich die
Taubstummensprache zu erlernen und im Beisein anderer Leute ein Gesicht zu
machen, als verstünde er jedes Wort. Vor allem musste er lernen, damit
umzugehen, dass Stille für den Schwerhörigen nicht allein Abwesenheit von Lärm
ist, sondern etwas völlig Passives, in dem die potenziellen Schwingungen
aktiver Stille nicht mehr gewürdigt werden können. Schwerhörigkeit ist nicht die
kurze, gewichtige Pause im Radio, in der der Ansager auf das Zeitzeichen aus
Greenwich wartet, Schwerhörigkeit ist ein Radioapparat, der den Geist
aufgegeben hat, dessen Batterien tot und nicht erneuerbar sind.
    In Simons Umfeld hatte man
nicht viel Verständnis für diese Dinge, und als während seiner
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