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Und kurz ist unser Leben

Und kurz ist unser Leben

Titel: Und kurz ist unser Leben
Autoren: Colin Dexter
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für Stufe, die Treppe hinunter bis zum Telefon im
Erdgeschoss, wählte den Notruf und saß bei geöffneter Tür auf dem lindgrünen
Teppich, als sechs Minuten später der Krankenwagen eintraf.
    Dann ging alles sehr schnell.
    Nachdem man ihn an einen
transportablen Herzmonitor angeschlossen, ihm eine schmerzstillende Spritze
verpasst hatte und ihn ein Aspirin hatte kauen lassen, fand sich Morse fast
zufrieden mit geöffneten Augen auf einer Trage im Heck des Krankenwagens
wieder.
    Der Sanitäter sah mit schlecht
verhehlter Besorgnis auf das geisterhaft bleiche Gesicht mit den blaulila
Lippen herunter. «Gleich kümmert sich ein Arzt um Sie. Wir sind bald da. Machen
Sie sich keine Gedanken.»
    Morse schloss die Augen. Er
hatte fast sein ganzes Leben damit verbracht, sich Gedanken zu machen. Warum
sollte er jetzt damit aufhören?
    Vielleicht hätte er nicht den
Notruf, sondern gleich vom Schlafzimmer aus Lewis anrufen sollen, der einen
Schlüssel zu seiner Wohnung hatte.
    Aber nein — Lewis hätte
bestimmt nicht diese ganze medizinische Ausrüstung gehabt.
    Es hatte ihn ein wenig
enttäuscht, dass der Krankenwagen nicht mit heulender Sirene zu seiner Wohnung
gebraust war.
    Aber selbst in Oxford war zu
dieser frühen Stunde der Verkehr dafür wohl nicht dicht genug.
    Bald würden sie ihn nach seiner
«Religion» fragen.
    Aber das «keine» war ja schnell
in das entsprechende Kästchen geschrieben.
    Und nach den nächsten
Angehörigen. Schon schwieriger, weil das vorletzte Mitglied der Morse-Sippe vor
einiger Zeit mit zweiundneunzig Jahren verstorben war.
    Aber auch da war das «keine»
schnell hingeschrieben.
    Gab es denn keine
erfreulicheren Überlegungen? Vielleicht hatte Schwester Harrison wieder Dienst
auf seiner Station und würde sich in den frühen Morgenstunden an sein Bett
setzen...
    Aber nein: Yvonne Harrison war
tot.
    Vielleicht hatte Schwester
McQueen Dienst und würde ihn noch einmal durchbringen?
    Aber nein: Schwester McQueen
war auf einen Monat nach Carlisle gefahren, um ihre ebenso gebrechliche wie
anspruchsvolle Mutter zu pflegen.
    Der Sanitäter drückte ihn
behutsam wieder auf die Trage zurück, als er versuchte, sich aufzurichten.
    «Lewis! Ich muss Sergeant Lewis
sprechen.»
    «Ja, natürlich. Wir sorgen
dafür, sobald man Sie untersucht hat. Wir sind gleich da.»
    Die Nachtschwester in ihrem
«Goldfischglas» rechts vom Eingang der Notaufnahme befand sofort, dass der
Neuzugang, den die Sanitäter durch die Automatiktür rollten, in den
Reanimationsraum B gehörte, und piepste den Leitenden Arzt vom Dienst an.
    In den nächsten zehn Minuten
wurde rasch und systematisch gehandelt. Blutproben wurden expediert und
Röntgenaufnahmen der Brust gemacht. Ein EKG ergab, dass der Patient einen
schweren Myokardinfarkt erlitten hatte. Danach kam neue Bewegung in die Szene,
und die mit einem Klemmbrett bewehrte freundliche junge Schwester, die gerade
dabei war, pflichtschuldigst die medizinische Vorgeschichte, die nächsten
Angehörigen, Religion und dergleichen abzufragen, wurde zum Glück durch eine
erfahrene Kollegin unterbrochen, die die schnelle Verlegung auf eine andere
Station überwachte.
    Morse liebte Bandwurmworte, da
seine klassische Bildung ihm tiefe Einblicke in die Etymologie von Worten
gewährt hatte, die mehr als vierzig Zentimeter lang waren. Deshalb hörte er
sich jetzt, als er auf der kardiologischen Abteilung lag, interessiert die
Begriffe an, die um ihn herumschwirrten: Thrombolyse, Tachicardie, Strepto...
soundso-soundso. Eins stand fest: Es tat sich viel, und es tat sich sehr
schnell. Als sei nicht mehr viel Zeit.
    Waren Engel männlich oder
weiblich? Zunächst wohl männlich, es gab demnach eine Art transsexueller
Interimsphase, in der... Seine Gedanken schweiften ab. Welches Geschlecht hatte
dann aber der Todesengel, den er jetzt zu seiner Rechten am Bett stehen sah?
Eine Krankenschwester hielt ihn sanft an einem weich gefiederten Flügel zurück,
während sie mit der anderen die Schulter ihres Patienten berührte. Morse war
plötzlich wieder ganz da. Er schlug die Augen auf und sah, dass Lewis ihm die
Hand auf die Schulter gelegt hatte.
    «Ich wollte Sie nicht stören,
Sir.»
    «Was machen Sie denn hier?»
    «Einer der Sanitäter wusste,
wer Sie sind, und er hat gehört, wie Sie gesagt haben... sozusagen...»
    Morse nickte lächelnd.
    «Wie fühlen Sie sich, Sir?»
    «Bestens. Klarer Fall von
falscher Identität.»
    «Ich darf nicht lange bleiben.
Ein paar Minuten, haben sie
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