Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
und das geheimnisvolle Erbe

und das geheimnisvolle Erbe

Titel: und das geheimnisvolle Erbe
Autoren: Nancy Atherton
Vom Netzwerk:
erkannte ihn kaum wieder. Die kühle Freundlichkeit in seinen Augen war einem Ausdruck warmer Fürsorge gewichen, eine Strähne seines weißen Haars war ihm in die Stirn gefallen, und die Hand, die meine mit so viel Zurückhaltung geschüttelt hatte, legte jetzt eine warme Decke um mich. Plötzlich sah ich die Ähnlichkeit zwischen Vater und Sohn ganz deutlich.
    »Es tut mir schrecklich Leid«, sagte Willis senior mit besorgtem Gesicht. »Ich hatte keine Ahnung, dass es Sie so stark berühren würde. Aber die Bedingungen des Testaments sind ganz klar, und ich musste sicher sein, dass Sie diejenige sind, die Sie zu sein behaupten. Ich hatte genaue Anweisungen, sehen Sie, aber ich hätte mir nie träumen lassen …«
    »Woher wussten Sie es?«, fragte ich benommen.
    »Woher wussten Sie von Tante Dimity?«
    »Ich denke, wir sollten erst mal zu Abend essen.
    Es sieht aus, als ob eine Mahlzeit Ihnen gut täte«, sagte er. »Und dann werde ich zur Abwechslung Ihre Fragen beantworten. Das wird viel angenehmer für mich sein, und für Sie sicher auch.« Er strahlte mich an. »Ich bin so froh, dass Sie hier sind, meine Liebe. Mir ist, als ob ich Sie schon seit Jahren kenne.«
    So sehr es mir auch missfiel, dass meine Fragen abermals abgeschmettert wurden, musste ich doch zugeben, dass etwas zu essen jetzt vielleicht eine wünschenswerte Unterbrechung sei. Ich hatte mich gerade aufgesetzt, als Bill einen Servierwagen ins Zimmer schob.
    »Na, bestimmt geht’s uns sehr gut, nicht wahr?«, fragte er spitzbübisch, und ich merkte, dass ich rot wurde. Er schob den Wagen in Reichweite an mich heran und brachte Stühle für sich und seinen Vater.
    »Wenn es Ihnen noch besser gegangen wäre, hätten wir womöglich einen Krankenwagen rufen müssen.«
    »Jetzt ist nicht der Moment für dumme Scherze, mein Junge«, mahnte Willis senior leise. »Wenn du Miss Shepherd etwas zu essen gegeben hättest, als sie ankam, dann wäre uns dieser unglückliche Zwi-schenfall erspart geblieben.«
    »Du hast ganz Recht, Vater. Es war meine Schuld«, sagte Bill, und ich bemühte mich, etwas tiefer in das Sofa zu sinken.
    »Bitte, Miss Shepherd, kosten Sie etwas von der Rinderbrühe«, sagte Willis senior. »Es gibt nichts Besseres nach so einer Aufregung. Und dann, wenn Ihnen danach ist, vielleicht eine Scheibe vom Braten …«
    Während sich die beiden Männer um mich be-mühten und mir immer wieder den Teller füllten, erzählte ich ihnen zwischen den einzelnen Happen die Geschichte, wie Tante Dimity eine Taschenlampe kaufen wollte. Es war ein komisches Gefühl, dieses Stück meiner Kindheit hier vor diesen beiden Fremden zur Prüfung auszubreiten. Aber Willis senior beruhigte mich, dass es ein wichtiger Punkt des großen Frage-und-Antwort-Quiz sei. Also er-zählte ich die Geschichte, Wort für Wort, genau wie meine Mutter sie mir erzählt hatte. Der einzige Unterschied war, dass diesmal statt der Zuhörer die Erzählerin einschlief. Obwohl es erst acht Uhr war, glitt ich, den Dessertteller noch auf dem Schoß, in einen tiefen Schlummer.

4
    In den frühen Morgenstunden wachte
    ich auf. Im Zimmer war es noch stockdunkel, aber ich brauchte kein Licht, um zu merken, dass ich nicht in meinem eigenen Bett lag. Die Matratze war fest, und die Kopfkissen waren weich, statt anders-herum wie bei mir. Als ich mich reckte, stießen meine Hände an etwas, das sich wie das Kopfende eines Bettes anfühlte, und auf einer Seite ertasteten meine Hände einen Nachtschrank und eine Lampe.
    Ich schaltete das Licht an.
    Nein, es war nicht mein Zimmer. Ein großer Lehnsessel mit Tweedbezug stand in einer Ecke und in der anderen ein kleiner, zierlicher Schreibtisch von der Art, wie man sie in Schaufenstern exquisi-ter Antiquitätenläden sieht und die in etwa die Hälfte unseres Bruttosozialeinkommens zu kosten scheinen. Auf dem Nachttisch standen eine Kris-tallkaraffe mit Wasser und ein Glas. Das Fußende des Bettes war aus demselben edlen Holz wie das Kopfende und der Schreibtisch. Die Bettwäsche war in einem männlichen Marineblau gehalten, und auf den Kopfkissenbezug war ein Monogramm in silberner Kursivschrift eingestickt: »W« – für Willis.
    Ich setzte mich auf. Plötzlich standen die Ereig-nisse vom vorigen Tag wieder vor mir, meine Verwirrung klärte sich, und ich kehrte in die … ja, wohin kehrte ich zurück? Gestern früh war ich noch ein ganz normaler Mensch gewesen, der sich ohne festen Job mühsam durchs Leben schlug und auf einer Matratze am Boden
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher