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Uferwald

Titel: Uferwald
Autoren: Ulrich Ritzel
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Juffy vertue. An einer Weggabel gehe ich nach rechts, das ist ungefähr die Richtung, aus der ich gekommen bin, schließlich stoße ich auf einen Pfad, der wieder ins Tal führt, und sehe sehr bald unter mir den Vorsprung, auf dem die Ruine steht. Ich gehe weiter und bleibe stehen, weil irgendetwas merkwürdig klingt, ein Rascheln und Keuchen und Getue... die werden doch nicht? denke ich und gehe vorsichtig zwei oder drei Schritte weiter. Ich habe noch nie Leuten beim Bumsen zu gesehen, ich weiß auch nicht, ob ich das will, eigentlich kann ich das nicht wollen.
    Isolde liegt im Moos, etwas unterhalb der Ruine, und Bilch auf ihr drauf, aber er ist, soweit ich sehen kann, noch nicht sehr weit gekommen. Offenbar hat er die eine Hand in ihrer Hose, aber sie hat sie noch an und will sie sich auch nicht ausziehen lassen, jedenfalls wehrt sie sich und versucht, die Hand wegzustoßen. Plötzlich sieht sie mich, »Til, hilf mir doch«, ruft sie halblaut, ich mache ein paar Schritte auf sie zu und bleibe dann stehen, gegen einen Baum gelehnt. Wenn es ihr wirklich so schlimm ist, denke ich, warum schreit sie dann nicht richtig? Dann sehe ich, dass der Bilch ihr den Mund zuzuhalten versucht, aber das geschieht alles ein wenig täppisch, und plötzlich rammt ihm Isolde das Knie irgendwohin, und er rollt zur Seite und hält sich die Weichteile.
    Dann steht Isolde auf und zieht den Reißverschluss ihrer Hose wieder zu und fängt an, sich das Laub aus Kleidern und Haar zu klopfen. Auch der Bilch kommt wieder auf die Beine, und während er seinen Hosenladen zuknöpft, bemerke ich, dass ich noch nicht viele Vergewaltigungen gesehen habe, aber das hier sei wohl ein besonders dilettantischer Versuch gewesen. Beide sagen nichts, wir gehen zu dritt und schweigend ins »Lamm« zurück, wo es Kaffee und Kuchen gibt und Juffy tatsächlich an seiner Gitarre herumzuklimpern beginnt. Ich warte darauf, dass jetzt das Große Tribunal stattfindet. Aber nein, es fällt kein Wort, Isolde sagt überhaupt nichts, und wenn das so ist, muss ich ja auch nicht davon anfangen.
     
    Dienstag, 3. November
    Wieder in dem kalten Loch in Tübingen-Lustnau, das kleine elektrische Heizöfchen macht einen staubigen Geruch, und die Lampe auf dem Kinder-Schreibtisch beleuchtet das Lehrbuch über Schuldrecht, Besonderer Teil, das ich vor zwei Semestern schon hätte durcharbeiten müssen. Mit dem Tauchsieder mache ich mir Wasser heiß für einen Tee, und zwar nicht, weil ich jetzt unbedingt einen Tee bräuchte, sondern nur so, und überlege mir dabei, ob ich versuchen soll, die Sätze, von denen mir keiner in den Kopf gehen will, von denen ich nicht einen auch nur annähernd verstehe und deren Worte in dem Augenblick jeden Sinn verlieren, in dem ich versuche, sie in einen Zusammenhang zu bringen – ob ich also versuchen soll, diese Sätze zu unterstreichen, nach der Methode Schleicher, ich hätte sogar einen Vierfarben-Stift, da würden die Wortgirlanden sich zu einem bunt gewirkten Teppich ausbreiten, einem Wunderteppich der Jurisprudenz, mit dem ich Tausendundeine Klausur überfliegen könnte... Bevor ich ganz und gar verrückt werde, fahre ich aber mit dem Bus in die Stadt und gehe in die Kneipe an der Neckarmauer und trinke einen Glühwein, ich sitze an der Theke und bin – so kommt es mir vor – der einzige, der da allein hockt, ohne Gesellschaft, ich trinke den Glühwein und höre zu, keinem einzelnen Gespräch, sondern dem gleichförmig rauschenden Kneipenlärm, dieser akustischen Ausdünstung trinkender, rauchender Menschen...
    Einmal hat mich die Alte Frau zu Ferien auf dem Bauernhof – wie soll ich sagen? – deportiert, wir saßen in einer Ferienwohnung fest und sahen uns die Streifentapete an, es war also ganz schrecklich, und abends musste ich Milch aus dem Kuhstall holen, den seltsamen Geruch nach Gras und Kuhscheiße habe ich noch immer in der Nase, aber vor allem war mir die kauende dampfende Geschäftigkeit der Kühe merkwürdig, wie man nur so mit sich selbst beschäftigt sein kann!
    Und solches Zeug geht mir durch den Kopf, während ich den Leuten zusehe, manchmal auch den Mädchen, und wegschaue, wenn sie merken, dass ich sie beobachte.
     
    Freitag, 6. November
    In der Neuen Aula treffe ich Schleicher, der tut, als hätten sich noch niemals zwei Ulmer in Tübingen getroffen, dabei waren wir zuletzt so innig nicht miteinander, und mich zu einem Kaffee einlädt und mir erzählt, dass man ihn gestern Abend zum zweiten Vorsitzenden vom Argument
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