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Überm Rauschen: Roman (German Edition)

Überm Rauschen: Roman (German Edition)

Titel: Überm Rauschen: Roman (German Edition)
Autoren: Norbert Scheuer
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verlassen, nun arbeitete sie wieder, wie vor ihrer Ehe, als Einkäuferin bei einer Cateringfirma in Trier.
    «Langsam beginne ich mich davon zu erholen und vergess diesen Kerl, seine Demütigungen und all das», sagte sie zur älteren Schwester. Während die Jüngere redete, strickte Reese. Sie war seit dem frühen Morgen in der Küche, half Alma noch immer, so gut sie es in ihrem Alter vermochte. Neben Reeses Stuhl stand ihre Handtasche aus weißem Kunstleder, die Mutter ihr vor vielen Jahren geschenkt hatte. Sie bedeutete Reese viel, alle wichtigen Dinge trug sie darin mit sich herum, alte Liebesbriefe aus ihrer Jugend, einen abgenutzten Lippenstift, zerknitterte Kinokarten aus dem seit Jahren geschlossenen Kino, ein Katzengoldbröckchen, eine verblasste Adresse auf einem Kaugummipapier, Fotografien von Valentin in seiner Fliegeruniform und vergilbte Bilder unseres Ortes, die vor dem Krieg aufgenommen worden waren.
    Reese hatte, wenn Karneval oder Kirmes gefeiert wurde, immer bei uns im Saal bedient. Wir mussten alle an diesen Tagen helfen, hinter der Theke stehen, kellnern, Cola und Limo aus dem Keller heraufholen, die Kühlung hinter der Theke mit Getränken auffüllen, den Hausmüll zur Kippe fahren, den Bürgersteig fegen, meine Schwestern mussten in der Küche zur Hand gehen, auch Hermann half. Sonst sollte er nur lernen und ‹die Schule ordentlich absolvieren›, wie Vater immer gesagt hatte, aus Hermann sollte etwas Besonderes werden, er sollte Abitur machen und studieren. Voller Stolz hatte Vater dies immer an der Theke verkündet. Damals hatten nur wenige Jugendliche aus dem Ort Abitur gemacht und studiert. Hermann war das Lernen leichtgefallen, wenn er etwas hörte oder las, behielt er es sofort, er konnte, als er eingeschult wurde, bereits rechnen und lesen.
    «Was macht Hermann nur die ganze Zeit allein da oben auf seinem Zimmer – kann mir das mal einer sagen?», fragte die ältere Schwester.
    Reese erzählte, wie Renate und Hermann sich als Kinder auf Rollschuhen von einem Gülleanhänger hatten ziehen lassen und sich dabei am Auslaufstutzen festgehalten hatten, wie der Hahn sich geöffnet hatte, die Gülle sich über sie ergossen und sie beide anschließend ihre Kleider im Haus versteckt hatten. Reese scheint nichts vergessen zu haben, an jede Kleinigkeit kann sie sich noch erinnern. Wenn ich alt bin, möchte ich so wie Reese sein oder vielleicht wie Zehner, aber auf keinen Fall wie meine Mutter, die immer nur schweigt, als wäre niemals etwas geschehen. Tagelang hatten damals alle gerätselt, wo wohl der schreckliche Gestank im Haus herkäme, bis der Bauer eines Abends an der Theke lachend vom Missgeschick meiner Geschwister berichtet hatte.
    Reese wandte ihren Kopf mit dem spitzen Kinn, kicherte und sah Renate verschmitzt an. Alma war gerade am Tisch vorbei in die Gaststätte gegangen, um zu bedienen. Die Schwestern redeten weiter mit Tante Reese; wir nennen sie so, obwohl sie eigentlich nicht mit uns verwandt ist. Würde ich eine Chronik unserer Familie schreiben, so würde Reese bestimmt darin vorkommen, mit ihrem knittrigen Gesicht, der spitzen Nase und den wachen schelmischen Augen. Während sie mit uns sprach, war es für einen Moment lang wie früher, wenn wir in der Küche zusammensaßen. Claudia erzählte von ihrem Sohn, der das Gymnasium besuchte und Sänger in einer Punkband war, sie scherzte über sein Aussehen, seine Piercings in der Lippe, aber in Wirklichkeit gefiel ihr das gar nicht. Renate lachte, als kleines Mädchen hatte sie mit Reeses Kindern gespielt, auf dem Heuschober und im Stall, damals standen noch Kühe dort, Goldfliegen und Bremsen summten, Rauchschwalben, die unter der Decke der Stallung nisteten, schwirrten umher, es roch nach Kuhpisse, Mist und saurer Milch. Renates Gesicht wirkte so unbeschwert, als wären all die Jahre nicht vergangen, als hätte der Fluss stillgestanden und spiegelte in seinen glitzernden Wellen all diese schönen Erinnerungen. Bestimmt war Renate in Gedanken mit Thorsten, Reeses Sohn, die Leiter zum Heuschober hinaufgeklettert, hatte im staubigen Heu gesessen und zum Stall hinunter, auf Kuhrücken und nach Fliegen schlagende Schwänze gesehen, hatte gehört, wie der Milchstrahl aus den Zitzen in einen Eimer zwischen die Beine der hockenden Reese spritzte. Früher hatte Reese den größten und schönsten Hof im Ort gehabt, in den Siebzigerjahren wurden die Landwirte dann mit der Landreform gezwungen, Siedlungshöfe mitten in ihre Felder zu bauen,
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