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Überm Rauschen: Roman (German Edition)

Überm Rauschen: Roman (German Edition)

Titel: Überm Rauschen: Roman (German Edition)
Autoren: Norbert Scheuer
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schon seit Jahren nicht mehr gesehen habe, und über die Holländerin, die in einem Campingwagen am Fluss gewohnt habe.
    Er sagte, dass sie blaue Ohrenschützer getragen habe, als sie unter dem Eis aufgetaucht sei, ihre Augen seien wie von Nadeln zerstochen gewesen. «Wenn se nur ins Wasser gefalln wär’, hätt’n die Augen nich’ so ausgesehen», sagte er. «Am Körper und ihren Klamotten hing’n Neunaugen und all solches Getier.» Dann erzählte er vom Krieg, von Nazis, die in der nahen Ordensburg kaserniert gewesen und dort zur Elite des Volkes ausgebildet worden waren. «Goldfasane, Goldfasane», schrie er. «Goldfasane in ihr’n Paradeuniform’n.» Danach redete er von Strohwang, der im Zementwerk arbeitete und immer nach einem Schatz gesucht hatte, einem Schatz, den die Nazis, kurz bevor sie die Ordensburg verlassen hatten, irgendwo in unserer Gegend vergraben haben sollten.
    Alma und ich betraten zusammen die Küche. Zehners Selbstgespräche waren auch hier zu hören. Tante Reese saß mit den Schwestern am Küchentisch und strickte. Es roch nach Fisch, nach dem Inhalt der Gewürzdöschen auf dem Regal über der Anrichte, nach frischen Brötchen, Kaffee und der Zigarette, die Renate, die jüngere Schwester, gerade rauchte.
    «Ach, du bist auch schon da», sagte Claudia, die Ältere. Sie seien eben bei Hermann gewesen, seine Tür sei verschlossen, er habe nicht geantwortet, keinen Mucks habe er von sich gegeben. Claudia hat kurze schwarze Haare und auf der Wange ein kleines Muttermal. Sie ist die Einzige von uns, die so ein Muttermal auf der Wange hat, wir anderen Geschwister haben ein großes tropfenförmiges Mal am Knie, das größer wird, verblasst und fast verschwindet, wenn wir die Knie beugen. Drei von uns haben es am rechten Knie, ganz gleich, von wem wir gezeugt wurden. Claudia wohnt noch in der Nähe, in einem Höhendorf einige Kilometer entfernt. Sie ist mit einem Lehrer verheiratet und arbeitet halbtags in der nahen Kurklinik im Sekretariat.
    Ich setzte mich zu den Schwestern an den Tisch. Alma brachte mir Kaffee. Alma konnte sich nicht zu uns setzen. Sie sagte, sie müsse noch das Frühstück für die späten Angler machen. Nach Ansicht von Vater und Hermann gibt es frühe Angler, die eben sehr früh aufstehen, und andere, die späten Angler, die erst am Vormittag zum Fluss gehen. Von den Letzteren hielten Vater und Hermann nicht viel. Sie nannten sie auch verächtlich Kneipenangler, weil sie meist nur groß daherredeten und mehr am Tresen als am Fluss zu finden waren. Alma ging zur Anrichte und füllte Marmelade in kleine Schälchen. Ich sah plötzlich vor mir, wie sie früher in der Küche herumgetanzt und französische Lieder geträllert hatte.
    Die Schwestern beäugten jeden Handgriff von Alma, tuschelten hinter ihrem Rücken. Alma holte Besteck aus der Schublade und polierte es mit ihrem Schürzenzipfel auf. Sie machte immer noch, auch wenn sie älter geworden war, weiche Bewegungen, so als würde sie auf Pantoffeln herumschweben und tanzen. Mutter hatte sie früher oft ermahnt, dass sie mit den Albernheiten aufhören solle, doch Alma kümmerte sich nicht darum, sie sang weiterhin Lieder von France Gall, auf Deutsch mit französischem Akzent. «Das war eine schööne Party … laa lala lalalaa … über uns hing, als ich Feuer fing, ein rosaroter Lampion», sie tanzte dabei wie ein Gnom und eine Fee zugleich, bis es selbst Mutter amüsierte, und schließlich saßen wir alle lachend in der Küche.
    Gestern war wegen des Markttages viel Betrieb, und außer den Anglern logierten seit einigen Tagen auch Brückenarbeiter im Haus, die alle Brücken im Umkreis überprüften und jetzt an der Brücke vor unserer Gaststätte arbeiteten. Alma hatte viel zu tun und konnte sich nicht zu uns an den Tisch setzen. Ich glaube, die Schwestern hätten es auch nicht gewollt, außerdem hatten sie vom ersten Tag an, als Alma zu uns in die Gaststätte gekommen war, um wegen einer Anstellung zu fragen, immer schon etwas gegen Alma gehabt. Sie hatten sich über ihren Französischtick lustig gemacht und sie spöttisch «Francesoir» genannt.
    Renate nahm ihre dürren Finger vom Tisch, nestelte an ihrem Jackenkleid herum, dann in ihrem rötlich gefärbten Haar. Sie hatte braune Augen und dick getuschte, verklebte Wimpern. Mager und krank sah sie aus, ich weiß nicht, ob ich sie unter den vielen Menschen irgendwo in der Stadt überhaupt erkannt hätte. Ihr Mann hatte sie vor einiger Zeit wegen einer anderen Frau
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