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Überm Rauschen: Roman (German Edition)

Überm Rauschen: Roman (German Edition)

Titel: Überm Rauschen: Roman (German Edition)
Autoren: Norbert Scheuer
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noch stark zu fühlen.
    Ich stehe im Fluss, die Zeit steht still, doch in Wirklichkeit gibt es jetzt keine Zeit mehr. Der Köder tanzt in der Luft. Es geht darum, die Schnur durch Schwünge in der Luft zu halten, sie zu verlängern, um den Fisch zu erreichen. Der Köder muss ganz behutsam, gleichsam schwebend, wie ein löwenzahnsamenartiges Aufsetzen eines natürlichen Insekts, auf der Wasseroberfläche landen.
    Der Siebenuhrzug nach Köln fährt vorbei, die Erschütterung überträgt sich von den Gleisen auf den Bahndamm und aufs Wasser, die älteren Fische sind das gewohnt und bleiben an ihrer Stelle, während die jüngeren wie eine Schar dunkler Pfeile nach allen Seiten auseinanderstieben. Hermann sagte, man könne das auch zum Fang nutzen, da die erfahrenen Fische im Schatten des vorbeifahrenden Zuges das Vorfach nicht erkennen. Ich probiere es, lasse die Fliege mit der Strömung über den Kolk treiben, ziehe die Schnur wieder ein, als der Zug vorübergefahren ist. Mit diesem Morgenzug waren Hermann und später auch ich zum Gymnasium gefahren.
    Die Bahntrasse folgt dem Flusslauf der Urft, danach der Kyll. Auf der Strecke zwischen Gerolstein und Trier fährt der Zug alle zehn bis fünfzehn Kilometer durch einen Tunnel, das Tal ist an manchen Stellen so eng, dass kein Platz mehr für die Bahntrasse blieb. So mussten Tunnel in den Berg gesprengt werden.
     
    Reese hatte einmal gesagt, die Eifel sei vor dem Bahnbau ein armes und einsames Land gewesen. «Die Leute kamen nicht aus ihren Dörfern heraus, waren richtige Hinterwäldler – und manche sind es bis heute geblieben», fügte sie lächelnd hinzu. Sie erzählte vom Bahnbau, von Dampfbaggern und Molukken aus fernen Weltgegenden, die am Gleisbau mitgearbeitet hatten und dann in der Eifel geblieben waren. Von Kaiser Wilhelm, der kurz vor dem Ersten Weltkrieg hier den Zug verlassen habe, um im Kronen-Hotel zu nächtigen, es sei damals das größte und prächtigste Hotel der Eifel gewesen. In einem Brief an seine Gattin habe der Kaiser von den reizvollen Landschaftsbildern und unvergleichlichen Naturschönheiten der Eifel geschwärmt. Reese erzählte uns auch von den Mätressen des Kaisers, von Jagdausflügen, Generälen, die im Kronen-Hotel den Überfall auf die Franzosen geplant hatten, von Militärzügen, die später den ganzen Tag durch den Ort ratterten und Soldaten und Material an die Westfront brachten.
    Während wir in der Küche saßen und Reese zuhörten, lag Mutter oft den ganzen Nachmittag mit Migräne im verdunkelten Mansardenzimmer. Manchmal kamen Männer von der Theke durch die Küche und gingen zu ihr nach oben, der Perseus-Verkäufer und andere, an die ich mich nicht mehr erinnere. Lange Zeit habe ich nicht mehr an solche Dinge gedacht. Vielleicht ist es der Fluss, der mir alles wieder erzählt, mich erinnert.

 
     
     

    Die Bachforelle (Salmo trutta fario) hat einen spindelförmigen Körper mit stumpfer Schnauze und kleinen scharfen Zähnen. Sie scheint im Wasser zu pfeifen, einen hellen sirrenden Ton. Je nach ihrem Standort ist sie gedrungen oder schlank, ihr Rücken schimmert braun-oliv, ihre Seiten sind gelblich gefärbt. Auf der dunklen Flanke zeigen sich hell gesäumte rote und bläuliche Tupfer. Die Forelle liebt klare, kühle Fließgewässer mit Kies und Geröllgrund, Vertiefungen, Ausspülungen des Bachbettes, unterspülte Ufer, Wurzeln von Uferpflanzen und Höhlen unter Steinen und Felsblöcken.

8
    Im Wasser spiegeln sich Schäfchenwolken, ich sehe meinen Schatten in anderen schimmernden Schatten und werfe den Köder. Während ich ihn langsam mit der Strömung abtreiben lasse, ist es, als wären manche Dinge erst gestern geschehen, so deutlich sehe ich sie vor mir. Zehner hatte immer behauptet, dass alles, was jemals geschehen sei, im Fluss treibe. Wenn sich irgendetwas am Fluss ereigne, sei es nur ein Räuspern, würde es vom Wind in den Fluss getragen, vom langsam dahin ziehenden Wasser aufbewahrt. Jeder Hauch, jedes Flüstern, der Fluss speichere alles, wie ein unendlich großer Seismograf. Zehner hatte immer schon seltsame Ideen, und Vater, später auch Hermann, waren die Einzigen, die sein Gerede ernst nahmen. Aber mit der Zeit und weil seine geistigen Kräfte nachließen, ist er immer eigentümlicher geworden, niemand versteht den Sinn dessen, was er den ganzen Tag an der Theke hockend redet, alles, was er sagt, erscheint wie ein großer aufgewühlter Strom von Erinnerungen.
     
    Auch als ich gestern Morgen in unsere Gaststätte
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