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Überm Rauschen: Roman (German Edition)

Überm Rauschen: Roman (German Edition)

Titel: Überm Rauschen: Roman (German Edition)
Autoren: Norbert Scheuer
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flutete in unser Zimmer, der Fluss schmeckte nach Pflaumen, reifen Äpfeln, roch nach schleimigen Kuhnasen, nach einem Sack ertränkter junger Katzen, nach Nebel und Abenteuern, für die es keine Sprache gab, Dinge, die uns stumm machten wie Fische und glücklich, am Fluss zu leben. Im Herbst logierten oftmals Pilger bei uns, deren Ziel Trier, der Heilige Rock oder die Sandalen Jesu waren, dann roch es nach Weihrauch und Myrrhe. In den Wintermonaten aber, wenn keine Gäste mehr im Haus waren, durften wir uns nach Belieben Zimmer aussuchen. Wir wählten immer welche zum Fluss hin, und immer schlief ich bei Hermann im Zimmer. Er las mir aus Büchern vor, oder er erzählte von Fischen, im stillen Wasser hinter den Brückenpfeilern, in den Strömungskanten und Gumpen am Rauschen unterhalb des Wehrs, von scheuen Äschen, zutraulichen Barben, gierigen Hechten, über dem Flussgrund wandelnden Groppen, von Elritzen, listigen Regenbogen- und Bachforellen, dem unergründlichen Geheimnis der Aale und den Schwärmen der unruhigen Sonnenfischchen. Niemand wusste so viel über Fische und den Fluss wie mein Bruder.
    Der Fluss strömt noch immer an unserer Hausmauer entlang, fließt an der Staumauer des Rauschens vorbei in den Mühlbach zur Zehnermühle. Noch Anfang des 20. Jahrhunderts versorgten die großen Wasserturbinen der Walzenmühle den ganzen Ort mit Kraftstrom. Heute ist die Mühle ein moderner Betrieb mit hohen Stahlsilos, einer Anlage zum Trocknen von Getreide, Mischanlagen und Lagerräumen. Wenn wir früher in der Küche saßen, gerade niemand in der Gaststätte war und wir Zeit zum Reden hatten, erzählte Reese manchmal von der Mühle und einem unserer Vorfahren, der oben auf dem Bergsporn als Einsiedler gelebt hatte und der das erste Gebäude, eine Kapelle aus Feldsteinen, auf dem höchsten Punkt des Stiftberges gebaut hatte, dort, wo heute die Kirche steht. Das war im späten Mittelalter gewesen, als die Eifel nach der Pest fast menschenleer war. Es gibt ein Gemälde von diesem Einsiedler, wie er vor seiner Kapelle im Schatten eines Baumes neben einem Brunnen hockt. Seine Nachfahren bauten später die Mühle und das Gasthaus, die damals noch zusammengehörten, und Jakob, Mutters Bruder, der früh starb, sagte immer, dass dieser Einsiedler Ahnherr unserer Familie gewesen sei – einer Familie, die, wie ich meine, nie eine richtige Familie gewesen ist –, aber wie kann man als Einsiedler Ahnherr einer richtigen Familie werden?
    Im ganzen Umkreis hatte es früher nur diese Mühle gegeben, fast einen Tag lang waren manche Bauern mit ihren Fuhrwerken unterwegs, um ihr Getreide hierherzubringen. Für die Mühle hatte man den Seitenarm des Flusses angelegt, den Rauschen gestaut. Seither floss das Wasser vom Rauschen durch den Mühlbach in einem sanften Bogen zum großen Wasserrad. Zur Erntezeit stand Fuhrwerk hinter Fuhrwerk, die Bauern kamen in die Gaststätte und warteten dort, bis sie zum Entladen an der Reihe waren. «Sie stanken nach Schweiß und furzten», erzählte Reese. Damals wurde die Mühle von einem unterläufig gespeisten Wasserrad angetrieben, die Mahlsteine waren vierzig Zentimeter dick, mit einem Durchmesser von zwei Metern. Später ersetzte man den Antrieb durch Dieselmotoren und baute große Silotürme. Im langen Wassergras des Mühlbaches schwammen Barben, die im Herbst von der Obstwiese in den Fluss gefallene Äpfel und Birnen fraßen. Die Gäste, die Ende der Sechzigerjahre kamen, saßen gerne im Vestibül am Flussufer in der Nähe der Strömung und tranken Kaffee. Hermann kletterte manchmal zum Fluss hinunter, um Barben anzulocken. Bei ihm waren sie zutraulich wie junge Katzen, ich glaubte, dass Hermann die Sprache der Fische kannte. Er war in dieser Zeit noch auf dem Gymnasium, ich besuchte die letzte Klasse der Grundschule.
    Vater ging, wann immer Zeit war, mit Hermann und mir zusammen fischen. Hermann war in allem geschickter und klüger als ich. Ich spürte, dass Vater große Stücke auf ihn hielt und ich ihm nicht so viel bedeutete. Mutter machte Vater oft Vorwürfe, dass er sich um nichts im Haus kümmere, nur das Angeln im Kopf habe und dass er uns auch noch den Kopf mit den Fischen verdrehe. Ich verstand nicht, warum Mutter Vater geheiratet hatte, wenn sie ihn nicht liebte.
    Damals begann Vater von dem alten großen Fisch zu phantasieren und von der Chronik unseres Ortes zu reden, die er schreiben wollte. Er war unzufrieden, weil er im Zementwerk arbeiten musste, und es quälte ihn bestimmt,
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