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Ueberdog

Ueberdog

Titel: Ueberdog
Autoren: Joerg-Uwe Albig
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das ich vor der Halle vergebens gesucht hatte. Das Telefon fand ich nicht. Durch die Ateliertür sah ich Kerzen flackern; mein Geburtstag war mir jetzt egal.
    Als ich das Gerät anrief, hörte ich nur die heitere Stimme meiner Mailbox. Auch die Handynummer, die Nina Löwitsch mir vor fast zwanzig Jahren gegeben hatte, probierte ich ohne Erfolg. Am nächsten Tag weigerte sich die Assistentin von Ninas Berliner Galerie, Ninas Kontaktdaten preiszugeben. Ich schrieb eine E-Mail an die Galerie zu Ninas Händen; dann rief ich Gesine Speyerling an.
    Ich erinnerte mich an ihre Soireen in Hoheluft, ihre regionale Hausmannskost und die selbst importierten Weine. An Gesines Abenden berührten sich Sterne entferntester Galaxien, gab der Sechser des Bundesligisten dem Percussions-Wunderkind der Camerata Prussica die Kloklinke in die Hand. Als sie abhob, hörte ich sofort die ganze Leutseligkeit der Sammlerin und Salondame in ihrer Stimme: »Komm doch mal wieder zum Abendessen«, sagte Gesine, als hätte sie einen spontanen Einfall. Und ich schob den Gedanken beiseite, dass sie eigentlich mit meiner Kamera sprach.
    Den Kamelmann brauchte ich nicht lange zu beschreiben. Mit triumphalem Flüstern erzählte Gesine die Geschichte von dem namenlosen Künstler, der überall war und nirgends, der aus heiterem Himmel bei der Premiere im Streit’s auftauchte oder in der Musikhalle, mitten im dritten Satz. Er erschien allein oder im Kreis einer Entourage aus verwegenen, struppigen Autisten. Gesine erzählte von seiner Schüchternheit, seinen starren, blassen Augen, die man nur in den seltenen Momenten sah, wenn er die Sonnenbrille abnahm. Sie erzählte von seinen fatamorganahaften Ateliers, von einem Hangar auf einem Truppenübungsplatz im Sperrgebiet in der Lüneburger Heide, von einem zum Parallelogramm geknickten Bauwagen an einer Großbaustelle in Fischbek.
    Und sie erzählte von den begehrten, verstörenden Spuren, die er hinterließ. Manifeste, mit Ketchup auf die Rückseite eines Verkehrsschilds in Stormarn geschrieben, eine Kajal-Zeichnung in der Spindtür im Umkleideraum einer stillgelegten Schalldämpferfabrik in Barsbüttel oder eine Lehmfigur auf dem Grund eines leeren Brunnenschachts im Alten Land. Der Käufer erwarb nichts als einen Satz GPS-Daten. Um das Werk zu sehen, musste er sich bei Nacht und Nebel zum Standort aufmachen und ihn geheimhalten, um sich das Eigentum an dem flüchtigen Werk auf Dauer zu sichern.
    Sie erzählte von den Aufenthaltsorten, die der Kamelmann wechselte wie seine Pseudonyme. Heute hieß er Wotan, morgen Beriberi, Linux oder Bang-Cock. »Wie er richtig heißt, weiß natürlich kein Mensch«, sagte Gesine. »Und eine Adresse wird dir erst recht niemand sagen können, Schatz. Wahrscheinlich nicht mal er selbst.«Der Gedanke, dass mein Telefon in der Manteltasche eines Nomaden wohnte, flößte mir ein kitzelndes Grauen ein. Mein Lebenswerkzeug lag in den Händen eines Gespensts. Manchmal war mir das Gerät selber wie etwas Lebendiges vorgekommen, ein geselliges Kind, munter und gesprächig im Kreis seiner zahllosen Freunde. Es war satt mit Kontakten, mit roten Fäden, mit weichen, wollenen Fäden in die Welt. Es waren Fäden, die ein Muster ergaben, eine menschliche Figur aus verbundenen, nummerierten Punkten, wie in einem Kinderbuch. In dieser Figur hatte ich mich immer erkannt; sie sah aus wie ich, an meinen besseren Tagen. Oft hatte ich, nur zum Spaß, das Adressbuch durchgescrollt, Name um Name in schneller, munterer Folge.
    Ohne mein Telefon spürte ich den Abstand, der mich vom wahren Leben trennte, schmerzhafter als zuvor. Wie zum Ausgleich stürzte ich mich auf die Pirsch, fotografierte bei der Eröffnung des Trollhätten-Flagship-Store, bei der Adipositas-Gala im Museum für Kunst und Gewerbe, bei der vierzehnten Verleihung der Metro Awards im Baltic , gesponsert von Lavoisier und der Nordic Creative Guild.
    Oft brach ich jetzt die Nächte frühzeitig ab. Willig ergab ich mich in Patricks Bemühungen, mich zu trösten. Er kannte meinen Schmerz nicht, nie hätte ich ihm davon erzählt; aber hinterher sah ich seine Muskeln, seine aristokratische Nase, die auf dem Kissen lag wie ein Orden. Und ich versöhnte mich mit einer Welt, die ihre Erscheinungen auf der niedersten Ebene ebenso aufblättern konnte wie auf der höchsten.

3
    An einem sonnigen Tag voller Wind saß ich in einem Café am Schulterblatt. Ich schloss die Augen. Der Wind wehte Bilder über das Meer wie Hochdruckgebiete, Bilder von
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