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Über Nacht - Roman

Über Nacht - Roman

Titel: Über Nacht - Roman
Autoren: C.H.Beck
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ein Pensionist hatte sich mit mehreren Tageszeitungen in eine Ecke zurückgezogen; er befeuchtete den Zeigefinger mit seiner Zunge, bevor er umblätterte.
    Irma saß am Fenster, die Beine in der Sonne; sie öffnete ihr Notizheft, um zu lesen, was sie vor ihrer Romreise aufgeschrieben hatte.
Die Perückenmacher stellten nicht nur neue Perücken her, sie renovierten auch gebrauchte Perücken.
Am Seitenrand hatte sie das Wort
accomodieren
notiert, in Klammer stand
Auffrischung, Aufbewahrung, Umarbeitung.
Sie blätterte weiter, drehte ihr Notizheft um. Hinten hatte sie ihre eigenen Aufzeichnungen archiviert.
Sie werden sagen, ich weiß zuwenig. Ich bin gebrochen. Nichts ist aus einem Guß.
    Wir umgearbeiteten Wesen, dachte Irma. Was für ein Triumph, daß der Tod dem Leben dient, daß man nicht mehr fragen muß, ob jemand tot ist, sondern wann er tot ist.
    Seit Irma wieder trinken konnte, wieviel sie wollte, seit sich ihre Knochen erholten, nahm das Salz der ausgetrockneten Seen zuweilen einen eigenen Glanz an, und der feine Sand konnte sich in träumerischen Staubnebel verwandeln. Sie dachte immer wieder an die lichtüberfluteten Ebenen, an die glänzenden Luftspiegelungen in der Wüste. Aber das Dürre, Saftlose, Welke war jetzt manchmal fett, naß und blühend, sogar im Frühherbst.
    In der Mittagspause fuhr sie zu Friedrich; es war zum ersten Mal, daß sie ihn daheim besuchte, in einem kleinen Appartement, einem Dachausbau mit abgeschrägten Decken und Fenstern auf Brusthöhe. Aber man sah den Himmel, schnell ziehende Wolken, unter denen sich der Flug der Spatzen und Schwalben im mittäglichen Sturm, der aufgekommen war, wie ein unterbrochenes Fallen ausnahm. Die Vögel glitten nicht, sie stürzten. Immer dann wenn Irma glaubte, sie würden nun wie Steine auf die Erde fallen, segelten sie ein Stück weit durch die Luft, bekamen Aufwind, um wieder abrupt an Höhe zu verlieren.
    Irma lag auf dem Bett, erschöpft von Friedrichs Zärtlichkeiten, von seinen liebevollen Bemühungen.
    Er hatte das Mittagessen vorbereitet, stellte ihr die Nachspeise auf den Nachttisch. «Warum quälst du dich so, es ist doch egal, von wem das Organ ist.»
    Â«Ich quäl’ mich nicht», sagte Irma, «ich will es mir nur vorstellen.»
    Friedrich hatte ihr aufmerksam zugehört, als sie von ihren Nachforschungen in der Bibliothek erzählt hatte.
    Â«Vielleicht hat sich der Hauptschirm nicht geöffnet, und der Fallschirmspringer hat den Reserveschirm gezogen, ohne vorher den Hauptschirm abzutrennen.» Das führe zu gefährlichen Verwicklungen, sagte er.
    Ein falscher Griff, eine falsche Entscheidung eines Unbekannten wird zum eigenen Segen, dachte Irma. Nur welches Verhängnis? Die Niere konnte auch aus Belgien, aus Deutschland, Luxemburg, den Niederlanden oder aus Slowenien sein. Österreich gehörte der Stiftung Eurotransplant an, die den internationalen Austausch von Spenderorganen in einem Einzugsgebiet von 118 Millionen Menschen koordiniert. Manche Unglücksfälle sind den Journalisten keine Nachricht wert, und selbst wenn Irma aus allen europäischen Zeitungen die Namen der Verunfallten erführe, wenn sie den jeweiligen Unfallhergang beschrieben fände, was änderte das? Was wüßte sie dann?
    Â«Glaubst du, man hilft dem Zufall nach, indem man ihn sich herbeiwünscht?» fragte Irma.
    Friedrich saß am Bettrand und löffelte seine Creme Caramel. «Dann hätte ich nicht Jahre auf dich warten müssen.»
    Â«Vielleicht war dein Wunsch nicht groß genug.»
    Â«Er war zu groß», sagte Friedrich und leckte den Löffel ab.
    Wenn Irma die Augen schloß, sah sie, wie die Felsen in Platten zerfielen, wie sie hernach mit abgerundeten Kanten aus dem Sand ragten. Sie mußte nicht mehr in der Mittagsglut über den brüchigen Boden laufen, mit wundgescheuerten Füßen, ohne Speichel. Durch den geöffneten Mund floß jetzt kühle Luft in die Lunge.
    Irma dachte daran, daß sie noch vor wenigen Monaten alles vermieden hatte, was durstig macht, daß sie keine Getränke auf den Tisch gestellt und niemals aus der Flasche getrunken hatte, um die Trinkmenge von einem halben Liter täglich nicht zu überschreiten, daß sie die Medikamente mit Speisen eingenommen und scharfe Zahnpasten vermieden hatte, ebenso zu Salziges und zu Süßes.
    Â«Willst du nicht?» fragte Friedrich
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