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Über mir der Himmel - Nelson, J: Über mir der Himmel

Über mir der Himmel - Nelson, J: Über mir der Himmel

Titel: Über mir der Himmel - Nelson, J: Über mir der Himmel
Autoren: Jandy Nelson
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Irgendetwas verändert sich im Raum – zwischen uns. Ich schaue in seine kummervollen Augen und er in meine und ich denke, sie fehlt ihm ebenso sehr wie mir , und da küsst er mich. Sein Mund: weich, heiß, so lebendig, ich muss aufstöhnen. Ich wünschte, ich könnte sagen, ich würde zurückweichen, aber das tu ich nicht. Ich erwidere seinen Kuss und ich will nicht aufhören, weil es sich in diesem Augenblick so anfühlt, als hätten Toby und ich irgendwie gemeinsam die Zeit überwunden und Bailey zu uns zurückgeholt.
    Er macht sich los und springt auf. »Ich versteh das nicht.«
    Er ist in so was wie einer Instant-Panik – nur noch Wasser hinzufügen – und läuft im Zimmer auf und ab.
    »Gott, ich sollte gehen, ich sollte jetzt wirklich gehen.«
    Aber er geht nicht. Er setzt sich auf Baileys Bett, schaut zu mir rüber und seufzt, als ob er vor einer unsichtbaren Macht kapitulieren würde. Er sagt meinen Namen und seine
Stimme ist so heiser und hypnotisch, dass sie mich vom Boden hoch und über Meilen von Scham und Schuld hinwegzieht. Ich will nicht zu ihm gehen, doch ich will auch zu ihm. Ich habe keine Ahnung, was ich tue, aber trotzdem gehe ich durchs Zimmer, ein wenig schwankend wegen des Tequila, bis an seine Seite. Er nimmt meine Hand und zieht sanft daran.
    »Ich will einfach in deiner Nähe sein«, flüstert er. »Nur dann sterbe ich nicht, weil ich sie so vermisse.«
    »Geht mir genauso.« Mit dem Finger streiche ich über die Sommersprossen auf seiner Wange. Erst steigen ihm Tränen in die Augen, bald auch mir. Ich setze mich neben ihn, dann legen wir uns auf Baileys Bett, wie Löffel aneinandergeschmiegt. Ehe ich in seinen starken, schützenden Armen einschlafe, ist mein letzter Gedanke, dass wir hoffentlich nicht mit unseren Gerüchen die letzten Überreste von Baileys eigenem Duft auslöschen, der noch am Bettzeug haftet.
    Dann wache ich wieder auf, Auge in Auge mit ihm, unsere Körper sind aneinandergepresst, unser Atem vermischt sich. Er sieht mich an.
    »Du bist schön, Len.«
    »Nein«, sage ich. Dann würge ich ein Wort heraus. »Bailey.«
    »Ich weiß«, sagt er. Aber er küsst mich dennoch. »Ich kann nichts dagegen machen.«
    Er flüstert mir genau in den Mund.
    Ich kann auch nichts dagegen machen.

    (Gefunden auf der Rückseite eines Französischtests in einem Pflanzkübel der Clover High)

6. Kapitel

    (Gefunden auf einer Heftseite, die sich in einem Zaun auf dem Bergrücken verfangen hatte)

    JUDAS, BRUTUS, BENEDICT Arnold und ich.
    Und das Schlimmste ist, wenn ich meine Augen zumache, sehe ich jedes Mal wieder Tobys Löwengesicht vor mir, seine Lippen nur einen Hauch von mir entfernt … Ein Schauer durchläuft mich von Kopf bis Fuß, und das sind nicht die Schuldgefühle, die ich eigentlich haben sollte, das ist Verlangen. Sobald ich dann die Vorstellung zulasse, wie wir uns küssen, sehe ich, wie Baileys Gesicht sich schockiert und betrogen verzerrt, als sie uns von oben beobachtet: Ihr Freund, ihr Verlobter küsst ihre verräterische kleine Schwester auf ihrem eigenen Bett . Uah! Die Scham bewacht mich wie ein Hund.
    Ich befinde mich im selbst verhängten Exil, wiege mich im Wald hinter der Schule in einer Astgabel meines Lieblingsbaumes. Hierher komme ich jeden Tag in der Mittagspause und verstecke mich bis zum Klingeln der Schulglocke, ritze mit meinem Stift Wörter in die Zweige und erlaube meinem Herzen, im Verborgenen zu zerbrechen. Ich kann nichts verstecken, jeder in der Schule kann mir bis auf die Knochen schauen.
    Ich lange in die braune Tüte, die Grama für mich gepackt hat, da knacken unter mir Zweige. Uh-oh. Ich schaue runter und da ist Joe Fontaine. Ich erstarre. Er soll mich nicht entdecken: Lennie Walker, Irrenhauspatientin, die in einem Baum zu Mittag isst (man muss schon irre sein, wenn man sich in einem Baum versteckt). Er dreht wirre Kreise unter mir, als würde er jemanden suchen. Ich atme kaum, aber er geht nicht weiter, sondern lässt sich rechts von meinem Baum nieder. Dann raschele ich ungewollt mit der Tüte, er schaut hoch, sieht mich.

    »Hi«, sage ich, so, als gäbe es keinen normaleren Ort zum Mittagessen.
    »He, da bist du ja -« Er hält inne, versucht eine Erklärung zu liefern. »Ich hab mich gefragt, was hier wohl ist …« Er schaut sich um. »Der perfekte Ort für ein Pfefferkuchenhaus oder vielleicht eine Opiumhöhle.«
    »Du hast dich bereits verraten«, sage ich und staune über meine eigene Kühnheit.
    »Okay, schuldig im Sinne der Anklage.
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