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Ueber Gott und die Welt

Ueber Gott und die Welt

Titel: Ueber Gott und die Welt
Autoren: Robert Spaemann
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Wachstum nicht eine unbegrenzte Wucherung, sondern hat die Form einer bestimmten spezifischen Struktur. Was Ursprung, Selbstheit und Spontaneität heißt, können wir nur wissen, weil wir uns selbst als Selbstsein erfahren. Und Ähnliches gilt für die spezifische Struktur. Wir kennen sie, wenn wir vom Umgang mit den Dingen der Realität, die uns umgibt, ausgehen, angefangen mit dem Umgang mit unseresgleichen. Und wir wissen aus Erfahrung, dass wir selbst für andere sichtbar und identifizierbar sind aufgrund einer unserer Spezies eigentümlichen Struktur, also einer »Natur des Menschen«.
    Das erste und entscheidende Element ist aber das, was der Bedeutung des Wortes
physis
zugrunde liegt.
Physis
ist das, was Zeugung und Wachstum von Seiendem leitet. Offenkundig ist das Paradigma für
physei onta
das Lebendige.
Physis
, das ist Leben eines Lebewesens entsprechend seiner Gattung.
    Aristoteles hat eine Definition von
physis
gegeben, die Lebewesen als Paradigma für Substanzen benutzt, das heißt als Paradigma für Seiendes, das etwas an sich selbst ist. Alle natürlichen Wesen, auch die unbelebten Elemente, besitzen ein solches formales inneres Prinzip, aufgrund dessen sie sich so verhalten, wie sie sich verhalten. Sie sind zum Beispiel brennbar oder nicht brennbar. Künstliche Dinge bewegen sich aufgrund der spezifischen Mobilität ihrer natürlichen Komponenten. Ein Auto bewegt sich nicht kraft seiner eigenen
physis
, sondern kraft der
physis
der natürlichen Substanzen, die in einen Verbrennungsvorgang eintreten. Für ein Auto ist es nicht irgendwie zu sein.
    Aber für alles Lebendige ist es irgendwie zu sein, etwa eine Fledermaus, wenngleich wir nicht wissen, wie es ist.
Physis
istnach Aristoteles definiert als »Quelle und Grund von Bewegung und Ruhe in einem Wesen, das diese Natur besitzt, das heißt nicht aufgrund akzidenteller Umstände«.
    Wenn wir eine Erfahrung suchen, in der wir eine solche Kausalität antreffen, dann liegt die Antwort auf der Hand: Wir erfahren uns selbst als eine solche Ursache unseres eigenen Handelns. Diese Erfahrung besitzt einen paradoxen Charakter. Einerseits begründet sie in der Tat den Begriff der
physis
als Ursprung.
    Man kann sogar sagen, dass sie generell unserem Begriff von Kausalität zugrunde liegt. Wenn Ursache mehr bedeutet als Antezedens-Bedingung, dann können wir dieses Mehr nur beschreiben, indem wir uns auf unsere Erfahrung als handelnde Wesen beziehen. Andererseits aber ist unsere Erfahrung von Selbstsein ebenso am Ursprung der Idee, der Mensch sei das Wesen, das aus der Natur herausgetreten ist, denn indem wir einen Elan verspüren, einen spontanen Impuls, spüren wir gleichzeitig die Möglichkeit, uns auf diesen Impuls zu beziehen, ihn freiwillig in unseren Willen aufzunehmen oder uns von ihm zu distanzieren.
    Erst in dieser Erfahrung von »secondary volitions«, wie Harry Frankfurt sie nennt, ergreifen wir uns selbst im vollen Sinn eines Ursprungs von Bewegung und Ruhe. Denn der erste Elan ist von der Art, dass wir aufgrund seiner Ursprung unserer Handlungen sind, ohne aber Ursache dieses Elans selber zu sein.
    Die Handlungsfreiheit ist noch nicht Willensfreiheit. Erst im Durchgang durch die Emanzipation mit Bezug auf
physis
kommt die
physis
des Menschen zu sich selbst. Das Paradigma der
physis
im aristotelischen Sinn ist genau diese Qualität des Menschen, aufgrund deren er die
physis
überschreitet. Diese paradoxe Struktur müssen wir im Sinn behalten, wenn wir von so etwas wie einer Natur des Menschen sprechen.

»So ist es mit allem, was die Menschen anfangen: Ein später Frost im Frühjahr oder ein verregneter Sommer, und ihre Hoffnungen gehn nicht auf.«
    »Doch selten nur geht nicht auf, was sie aussäen«, sagte Legolas. »Das liegt im Staub und vermodert und sprießt dann wieder auf, wo und wann man es nicht erwartet. Die Werke der Menschen werden uns überdauern, Gimli.«
    »Und doch wird nichts dabei herauskommen, denke ich, als lauter Hätte-sein-können«, sagte der Zwerg.
    »Darauf wissen die Elben nichts zu erwidern«, sagte Legolas.

    J. R. R. Tolkien, »Der Herr der Ringe«

GLOSSAR
    Bense, Max, 1910–1990, Philosoph und Publizist, Begründer des »Existenziellen Rationalismus«, der die Trennung von Natur- und Geisteswissenschaften aufheben wollte, lehrte ab 1950 an der Technischen Hochschule Stuttgart.
    Bonald, Louis-Gabriel-Ambroise de, Vicomte, 1754–1840, französischer Staatsmann und Philosoph, Kritiker der Französischen
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