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Ueber Gott und die Welt

Ueber Gott und die Welt

Titel: Ueber Gott und die Welt
Autoren: Robert Spaemann
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Gegenteil: Das Leben selbst enthüllt sich für Thomas erst wirklich, wenn es durch die Vernunft zu sich selbst gekommen ist. So kann Thomas sagen:
Qui non intelligit, non perfecte vivit, sed habet dimidium vitae
– »Wer nicht versteht, lebt nicht vollkommen, sondern hat nur ein halbes Leben.«
    Ich möchte die Aufmerksamkeit auf das Paradox der Transzendenz lenken, das Paradox eines Interesses an dem, was nicht auf mein Interesse bezogen und nicht durch mein Interesse definiert ist. Das primäre Interesse verwandelt alles, dem ich begegne, in Objekt. Das zweite Interesse dagegen istdas Interesse an dem, was das Andere in sich selbst und an sich selbst ist. Es setzt eine Ipseität, ein Selbstsein voraus, aufgrund dessen das begegnende Objekt dem Subjekt der Begegnung ähnlich ist. Es ist also seinerseits Subjekt, und sei es auf eine noch so entfernte Weise.
    Diese Voraussetzung ist eine letzte Voraussetzung der Philosophie, die wir nicht ihrerseits noch einmal begründen können. Darauf spielt Whitehead an, wenn er zu Beginn von »Process and Reality« schreibt, dass nur das als wirklich real gelten darf, was selbst einen Pol der Subjektivität besitzt.
    Für Whitehead handelte es sich dabei um eine analytische Wahrheit. Wenn das Sein einer Sache sich nicht reduzieren soll auf die Tatsache, für ein Subjekt zu sein, dann muss dies Seiende selbst der Ordnung der Subjektivität angehören, die, aufgrund ihres objektiven Gehaltes, zum Objekt für andere Subjekte werden kann.
    Eine solche Einheit von Subjektivität und objektivem Gehalt ist es, was die Griechen
physis
nannten.
Physis
ist eines der fundamentalen Worte der antiken Philosophie, und zwar ebenso wohl der theoretischen wie der praktischen. Man kann sogar sagen, dass dieser Begriff das Bindeglied darstellt zwischen theoretischer und praktischer Philosophie.
    Seiendes in Termini der
physis
denken war eine Entscheidung von großer Reichweite. Oder besser: Die Tatsache, dass die Realität sich zeigt, insoweit sie
physis
ist, war für den Beginn des europäischen Denkens ein Ereignis von großer Tragweite. Diese Entscheidung blieb bis ins 16. Jahrhundert, also ungefähr 2000 Jahre lang unbestritten. Seither wird sie in Frage gestellt.
    Und während der letzten Jahrzehnte zeichnen sich die Konsequenzen dieser Infragestellung immer deutlicher ab. Im Licht dieser Konsequenzen müssen wir uns fragen, ob wir bewusst und mit allen Implikationen die Entscheidung übernehmenwollen, die damals gefallen ist, oder ob wir sie revidieren wollen.
    Die Philosophie kann nicht beanspruchen, diese Frage auf autoritäre Weise zu beantworten, aber, geleitet vom Eigeninteresse des Menschen, sucht sie zu verstehen, was in Wahrheit ist. Daraus leitet sich allerdings ein hermeneutischer Zirkel ab. Denn mehr noch als die einfache Selbstaffirmation setzt das Wahrheitsinteresse immer schon voraus, was es sucht, das heißt es setzt voraus, dass etwas wie Wahrheit existiert.
    Seit Nietzsche ist dies eine kühne und bestreitbare Voraussetzung, außerdem setzt das Interesse am Verstehen der Wirklichkeit etwas voraus, das zum Beispiel Michel Foucault bestreitet, nämlich dass »die Welt uns ein lesbarer Gesicht zuwendet«.
    Der Begriff der
physis
beruht aber genau auf dieser Voraussetzung. Eine Sache daraufhin befragen, was ihre
physis
ist, bedeutet den Versuch, sie in Analogie zu unserem Selbstverständnis zu verstehen. Denn
physis
bezeichnet genau das, was uns mit allem verbindet, was ist.
    Es wurde oft gesagt, dass der Mensch das Wesen ist, das sich von der Natur emanzipiert hat. In einem gewissen Sinne ist das richtig. Aber ehe wir verstehen, in welchem Sinn, müssen wir sehen, dass der Begriff der
physis
ein Anthropomorphismus ist. Er bedeutet, dass wir die Wirklichkeit, die uns umgibt, nach Analogie zu uns selbst verstehen und nur in einem zweiten Schritt uns selbst nach Analogie der lebenden Dinge, die uns umgeben. Von den Anfängen der Philosophie an, von Heraklit und Parmenides an, ist der Begriff der
physis
durch zwei Bedeutungselemente bestimmt.
    Einmal die Bedeutung der Entfaltung, des Wachstums, ausgehend von einem inneren Prinzip, und zweitens die Bedeutung einer artspezifischen Struktur. Beide Bedeutungen hängen zusammen. Die innere Belebung eines Lebewesensist Teil dessen, was wir wahrnehmen. Diese Wahrnehmung schließt das Faktum ein, dass wir jedes Mal, wenn wir ein Ding als Lebewesen identifizieren, zwischen Toten und Lebenden unterscheiden. Andererseits ist das natürliche
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