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Über Gott und die Welt

Über Gott und die Welt

Titel: Über Gott und die Welt
Autoren: Umberto Eco
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den Gebrauch. Mit anderen Worten, ich habe das Recht, ein Mietshaus in bester Gegend zu besitzen, aber wenn es Leute gibt, die in Baracken hausen, verlangt die Vernunft, daß ich denen, die keines haben, den Gebrauch meines Hauses gestatte (ich bleibe der Hauseigentümer, aber die anderen dürfen mein Haus bewohnen, auch wenn es meinem Egoismus nicht paßt). Und so weiter. Lauter Lösungen, die auf dem Gleichgewicht beruhen und auf jener Tugend, die Thomas
    »Klugheit« nannte, prudentia, deren Aufgabe darin besteht, »die Erinnerung an die erworbenen Erfahrungen zu bewahren, den genauen Sinn für die Ziele zu pfl egen, den wachen Blick für die Gelegenheiten, die rationale und schrittweise Untersuchung, die Voraussicht der künftigen Möglichkeiten, die Umsicht für den rechten Augenblick, die Vorsicht vor Verwicklungen und die Erkenntnis der außerordentlichen Bedingungen«.60
    Thomas erreichte sein Ziel, denn dieser Mystiker, der es nicht erwarten konnte, sich in der seligmachenden Anschauung Gottes zu verlieren, nach welcher die menschliche Seele »per naturam«
    strebe, war auch als Mensch sehr aufmerksam für die natürlichen Werte und hatte großen Respekt für den rationalen Diskurs.
    Vergessen wir nicht, daß vor ihm die Kommentatoren oder Kopisten, wenn sie den Text eines antiken Autors studierten und darin etwas fanden, was nicht mit der geoffenbarten Religion übereinstimmte, entweder die »irrigen« Sätze strichen oder sie als zweifelhaft kennzeichneten, um den Leser zu warnen, oder sie in die Randnotizen verbannten. Was macht dagegen Thomas? Er reiht die divergierenden Meinungen aneinander, klärt den Sinn einer jeden, stellt alles in Frage, auch die geoffenbarte Wahrheit, zählt die möglichen Einwände auf und versucht schließlich eine Vermittlung. All das in voller Öffentlichkeit, genauso öffentlich, wie zu seiner Zeit auch die Disputatio sein mußte, denn nur so funktioniert das Tribunal der Vernunft.
    Daß dann bei genauer Lektüre sich zeigt, daß in jedem Falle die Glaubenswahrheit über alle anderen Wahrheiten siegt und die Klärung der Frage leitet, daß also Gott und die geoffenbarte Wahrheit der weltlichen Vernunft vorausgehen und sie lenken, das haben die scharfsinnigsten und hingebungsvollsten thomistischen Forscher klar herausgestellt, zum Beispiel Etienne Gilson.
    Keiner hat je behauptet, Thomas sei Galilei gewesen. Thomas bot einfach der Kirche ein Lehrgebäude, das sie mit der natürlichen Welt in Einklang brachte. Und er siegte in fulminanten Etappen.
    Die Daten sprechen für sich. Vor ihm behauptete man, »der Geist Christi regiert nicht, wo der Geist des Aristoteles lebt«, noch 1210
    sind die naturphilosophischen Schriften des griechischen Denkers verboten, und die Verbote gelten weiter in den Jahrzehnten, als Thomas diese Schriften von seinen Mitarbeitern übersetzen läßt und kommentiert. Aber 1255 ist der ganze Aristoteles akzeptiert.
    Nach Thomas’ Tod versucht man zwar, wie wir sahen, noch einen letzten Ansatz zur Reaktion, aber schließlich richtet sich die katholische Lehre nach den aristotelischen Positionen aus.
    Die geistige Vorherrschaft und Autorität eines Benedetto Croce über die italienische Kultur eines halben Jahrhunderts ist nichts im Vergleich zu der Autorität, die Thomas bezeugt, indem er in vier Jahrzehnten die ganze Kulturpolitik der christlichen Welt verändert. Seitdem ist sie thomistisch. Mit anderen Worten, Thomas hat dem katholischen Denken ein so komplettes Raster geliefert, in dem alles seinen Platz und seine Erklärung fi ndet, daß dieses Denken von da an nichts mehr verrücken kann. Höchstens kann es noch, mit der gegenreformatorischen Scholastik, Thomas wiederbeleben, uns einen jesuitischen Thomismus präsentieren, einen dominikanischen Thomismus und sogar einen franziska-nischen, in dem sich die Schatten von Bonaventura, Duns Scotus und Ockham regen. Aber an Thomas kann niemand mehr rühren. Was bei Thomas der konstruktive Drang nach einem neuen System war, ist in der thomistischen Tradition zur konservativen Bewachung eines unantastbaren Systems geworden. Wo Thomas alles hochgehen ließ, um Neues zu schaffen, scheut sich der etablierte Thomismus, auch nur die geringste Kleinigkeit zu be-rühren, und vollbringt wahre Wunder an pseudothomasischen Equilibrismen, um das Neue ins Raster des traditionellen Systems zu pressen. Das hochgespannte und ruhelose Erkenntnisstreben, das der dicke Thomas in höchstem Grade besaß, hat sich daher in die
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