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Ueber den Horizont hinaus - Band 1

Ueber den Horizont hinaus - Band 1

Titel: Ueber den Horizont hinaus - Band 1
Autoren: Sigrid Lenz
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habe der sich wissentlich vor ihm zurückgezogen. Marvin scheute sich, in den benachbarten Schlafraum einzutreten. Obwohl er nicht wirklich wusste, was ihn davon abhielt. Vielleicht fürchtete er die Ablehnung, vielleicht fürchtete er, seinen Enthusiasmus zu offen darzulegen.
    Vielleicht ahnte er, dass Ian auf seine eigene unnachvollziehbare Art, mehr über ihn wusste, als er durfte. Fürchtete, dass dieser ihn ablehnte, wenn er erst in seine Seele gesehen hatte. Vielleicht war es Ian kein Geheimnis geblieben, dass Marvin zu manchen Zeiten, wenn es besonders schwer für ihn war, sich nicht scheute, von Bett zu Bett zu gehen auf der Suche nach Ablenkung, nach Erleichterung, nach Erlösung.
    Ian sah mehr als andere. Davon war Marvin überzeugt. Und ebenso überzeugt war er von Ians Fähigkeit, Schlüsse zu ziehen und Konsequenzen unerbittlich durchzusetzen. Vielleicht war es nicht der Gedanke an Zurückweisung, der Marvin fernhielt. Mit Zurückweisung konnte er umgehen.
    Seinen Stolz, seine Selbstachtung hatte er verloren, als er zum ersten Mal vor einem Mann für Geld in die Knie gegangen war. Aber der Gedanke, in diesen schwarzen Augen ein Gefühl wie Verachtung zu lesen, erschreckte Marvin mehr, als er vor sich zugeben konnte.
    Ian hatte zugegeben, allein zu sein. Sein Leben war mit Sicherheit nicht leichter gewesen als Marvins eigenes. Das bewiesen schon die zahlreichen Narben, die Ians Hüften und Schultern bedeckten. Dennoch trug der sein Schicksal mit Würde. Ian wäre nie zu dieser erbärmlichen Figur geworden, zu diesem Schatten eines Menschen, als der Marvin sich durch die langen Jahre seiner Jugend geschleppt hatte.
    Plötzlich legte sich eine kalte Hand auf seine Schulter. „Was machst du hier draußen?“, fragte Ian.
    „Ich… ähm. Frische Luft schnappen“, murmelte Marvin verlegen, als wäre er bei einer Indiskretion ertappt worden.
    „Ah.“ Ian schwieg, ließ jedoch seine Hand auf Marvins Schulter ruhen. Erst nach einer Weile hob er an zu sprechen. „Wenn du noch länger hier bleibst, ohne dich zu rühren, holst du dir eine Lungenentzündung. Dann wird es schwierig werden, dreißig Kilometer am Stück zu laufen.“
    „So besorgt?“ Marvin hatte nicht beabsichtigt, bitter zu klingen, doch die Kälte und eine seltsame Anspannung ließen die Worte aus seinem Mund strömen, ohne dass er direkten Einfluss auf deren Tonfall nehmen konnte.
    Ians Hand glitt von Marvins Schulter herab. Marvin hörte, wie der andere scharf den Atem einsog. Rasch drehte er sich um.
    „Ich meine, du hast recht“, beeilte er sich zu murmeln, ohne Ian anzusehen. „Es ist nicht sehr schlau, hier in der Kälte zu warten und sich die Füße abzufrieren.“
    Ian sah ihn prüfend an. „Dann komm doch rein“, sagte er. Ich hab Tee aufgesetzt. Eigentlich nutze ich es immer aus, die Alleinherrschaft über alles zu besitzen.“
    „Kein lästiges Anstehen mehr“, ergänzte Marvin.
    „Endlich Zeit zum Duschen“, grinste Ian.
    „Ausschlafen?“, fragte Marvin.
    „Es ist Weihnachten“, bestätigte Ian. „Irgendetwas müssen doch auch wir davon haben.“
    Ein dankbares Lächeln auf den Lippen folgte Marvin dem Größeren ins Innere des Gebäudes. Sie durchquerten die verlassenen Gänge, deren dünne Wände die Kälte nicht vermochten abzuhalten und gelangten schließlich in den vorderen Schlafraum, der eine kleine Kochnische als besonderen Luxus enthielt.
    Für gewöhnlich achteten die Besitzer der nahe gelegenen Betten genau auf die Exklusivität dieser Ausstattung. Was bedeutete, dass die Wenigsten in den Genuss kamen, sie für sich nutzen zu durften. Umso behaglicher war es, dem brodelnden Teekessel bei seiner Arbeit zuzusehen, den Geruch der frisch überbrühten Blätter mit allen Sinnen aufzufangen und sich schließlich an dem warmen Getränk zu laben.
    Erst als Marvins Körper sich an das wohlige Gefühl, das seinen Magen durchströmte, gewöhnt hatte, ergriff Ian die blecherne Kanne, sowie seine eigene Tasse und winkte Marvin wie selbstverständlich, ihm zu folgen. Marvin zögerte ein wenig, als sie an der Schwelle zu Ians, nun von ihm allein besetzten Schlafraum, ankamen. Doch Ian drehte sich zu ihm um, lächelte dunkel, als könnte er seine Zurückhaltung verstehen. „Komm“, sagte er leise. „Ich habe da etwas, das dich sicher interessieren wird.“
    Marvin hob die Augenbrauen, doch er folgte Ian. Was auch immer der im Sinn haben mochte, Marvin fiele sicher schwer, es ihm zu verwehren.
    Ian führte ihn quer
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